Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
mir. Das fiel mir spätestens auf, als ich schon am Tag meiner Ankunft bis in die alleroberste Astgabel des Kirschbaums kletterte. Dort war ich nicht mehr gewesen, seit ich mir bei einer ähnlichen Zirkusnummer drei Rippen gebrochen hatte.
Was für eine Befreiung, wieder Lebensfreude zu spüren. In der Früh aufzuwachen und zu wissen, dass ich in der Lage sein werde, den Tag zu genießen – das war eine elementare Veränderung.
In den Jahren davor war ich in Wolfurt nie sehr unternehmungslustig gewesen. Weil es jederzeit zu Zwischenfällen hatte kommen können, hatte ich mich ans Haus gebundengefühlt. Ein Tag nach dem anderen war vergangen, zäh und doch unberechenbar, weshalb man im Dorf wenig von mir gesehen hatte. Jetzt hingegen verfügte ich nicht nur über Zeit, sondern auch über Energie. Ich rief die Geschwister und ehemaligen Arbeitskollegen des Vaters an und sagte, ich wolle mit ihnen reden für ein Buch, das ich schreiben werde.
Die Gespräche fanden meist am Abend statt. Tagsüber besuchte ich ein- oder zweimal den Vater.
Vom ersten Tag an war er ausgeglichen, entspannt und aufmerksam. Er stellte Fragen nach meinem Befinden und meinen Plänen. Er selber sei im Großen und Ganzen zufrieden, warte aber auf den richtigen Moment, um abzuhauen.
Er sagte verschwörerisch:
»Dann siehst du mich hier nicht mehr.«
Er lehnte sich zurück und lächelte in sich hinein.
Er war mager geworden und fiel aus den Kleidern. Er hatte jetzt eine andere Kragenweite , aber noch dieselben Hemden. Er war nach wie vor geschickt. Ich sah eine außerordentliche Schönheit darin, wie er sich mit zwei Fingern den obersten Knopf seines Hemdes auf- oder zumachte, beiläufig, ohne seine Gedankengänge zu unterbrechen. Mir gefiel der Vater als Ganzes, der ganze Mensch. Ich fand, er schaute gut aus, er war gut drauf. Mir kam die Redewendung in den Sinn: Etwas in Schönheit beschließen .
Wenn er so weitermachte, traf am Ende auf ihn zu, was ich einmal in einem Roman von Thomas Hardy gelesen hatte. Dort hieß es über einen alten Mann, er nähere sichdem Tod wie eine Hyperbel der Geraden, ganz langsam die Richtung so verändernd, dass trotz allernächster Nähe unklar war, ob die beiden einander je treffen würden.
Die Absicht meines Vaters war tatsächlich, noch ein bisschen weiterzuleben. In diesem Punkt bezog er klar Position.
Es war ein Dienstag, als ich Mitte des Nachmittags in den Aufenthaltsraum der Pflegestation trat. Der Vater saß am Tisch eines Mitbewohners, den er wenige Tage zuvor gefragt hatte:
»Und wer bist du?«
»Ich bin der Ferde«, hatte der Mann gesagt.
Worauf der Vater gegrinst und geantwortet hatte:
»Ich glaube eher, du bist ein Pferdle.«
Die beiden unterhielten sich lange. Mit Staunen und Freude stellte ich fest, dass das, was sie zustande brachten, ein gutes Gespräch war, jeder am Gegenüber interessiert, wenn auch mit Einschränkungen aufgrund der jeweiligen krankheitsbedingten Unzulänglichkeiten.
Ferde sagte, er sei oben bei Petrus gewesen, dort sei es sehr schön, die hätten lauter neue Wohnungen. Der Vater antwortete:
»Das ist nicht das, was mir vorschwebt, ich würde lieber ein wenig spazieren gehen und schauen, ob ich jemanden treffe, mit dem ich reden kann.«
Ferde: »Das geht dort oben natürlich nicht.«
Während der Vater und Ferde sich unterhielten, riefen zwei Frauen abwechselnd nach der Schwester, um Hilfe,dieses und jenes. Der Vater ignorierte die Hilferufe oder blendete sie aus, keine Ahnung. In seinem fröhlichen Gesichtsausdruck war keinerlei Änderung festzustellen, er drehte auch nicht den Kopf, er war ganz auf Ferde und mich konzentriert und schenkte dem, was hinter ihm passierte, nur dann seine Aufmerksamkeit, wenn Ferde sich den Frauen zuwandte. Mit wortkarger Energie warf Ferde den Frauen bissige Bemerkungen zu, er war so etwas wie der Schopenhauer der Station.
»Hilfe! Hilfe! Hilft mir denn niemand!«
»Sei still da drüben!«
»Ich will nach Hause!«
»Dann bestell dir ein Taxi!«
»Ich brauche einen Doktor!«
»Der hat schon Feierabend!«
»Lieber Herr Doktor!«
»Der ist zu Hause bei seinem Schatz!«
»Ich brauche Hilfe!«
»Dir kann niemand mehr helfen!«
Frau beschämt: »Oh, das wusste ich nicht –«
Was mich erstaunte: Beide Frauen, obwohl aus Wolfurt und Umgebung, brachten ihre Klagen hochdeutsch vor, als wollten sie so die Ernsthaftigkeit ihrer Nöte unterstreichen.
Auch der Vater redete mit Ferde meistens hochdeutsch, aber ganz
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