Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
ab.«
Mit Vlasta hätte es geklappt, aber dann erkrankte Vlastas Mutter, ihre Mutter sagte am Telefon, es sei nicht einzusehen, dass Vlasta in Österreich fremde Menschen pflege, während zu Hause die Mutter im Bett liege.
Anna, die sehr klug war und ihr Möglichstes tat, fand trotzdem keinen Draht zum Vater. Es war wie verhext. Wenn sie bei Spaziergängen Leute trafen, die meinen Vater fragten, wen er bei sich habe, sagte er, das sei eine blöde Kuh, die ihm ständig auf die Nerven falle.
Einmal – das war das Schlimmste – machte er Anna gegenüber die Geste des Halsabschneidens. Sie habe schon Angst gehabt, er gehe zur Schublade und hole ein Messer. Ich verbarg meine Bestürzung und sagte, das sei nicht ernst zu nehmen. Aber wusste ich es? Also fügte ich hinzu:
»Er ist ein kranker Mann, es schadet nichts, wenn man sich vorsieht. Im Ernstfall ist er weder besonders stark noch besonders schnell.«
Sehr beruhigend!
Das Verteufelte war: Sowie eine Betreuerin, mit der er nicht zusammenpasste, das Haus verlassen hatte und Danielaoder meine Mutter den Laden übernahm, war der Vater nach zwei oder drei Tagen friedlich wie ein Lamm, ausgeglichen, fröhlich, ruhig, entgegenkommend, die Freundlichkeit in Person. Dann hörten wir wieder die gewohnt kauzigen Bemerkungen.
»Bist du zufrieden, August?«
»Ich bin immer zufrieden. Ich war schon als Baby zufrieden.«
Ich weiß nicht, wie es weitergeht.
Ich kümmere mich um alles.
Mich dürft ihr nicht vergessen. Das wäre ungerecht.
Das tun wir nicht.
Du, aber ganz so leicht ist das nicht!
Ganz bestimmt, dich vergessen wir auf keinen Fall.
Die Alzheimererkrankung machte dem Vater seit über einem Jahrzehnt zu schaffen. Die Schnittbilder des Gehirns, die der Neurologe anfertigte, zeigten das ganze Ausmaß der Zerstörung. Trotzdem trat der Vater fast täglich für kurze Momente aus seiner Krankheit heraus und fragte auf die eine oder andere Art:
»Was ist mit meinem Kopf los?« Er klopfte sich gegen die Stirn: »Da stimmt doch etwas nicht. Kannst du mir sagen, wie wir das reparieren können?«
Dann schaute er mich hilfesuchend an und war enttäuscht, wenn ich wenig überzeugend antwortete:
»Hilfe kommt aus Bregenz.«
Das hatte Franz Kafka fast auf den Tag genau zehn Jahre vor der Geburt meines Vaters in sein Tagebuch notiert, am 6. Juli 1916. Und wie ein Kafkascher Held musste mein Vater sich fühlen, obwohl er vom Garten seines Hauses nach Bregenz sehen konnte.
Kafka fuhr fort:
Und als der Kranke angestrengt die Augen zusammenzog, fügte der Arzt hinzu: »Bregenz in Vorarlberg.« – »Das ist weit«, sagte der Kranke.
Auch für den Vater war Bregenz weit, zumindest gemessen daran, wie wenig man ihm helfen konnte. In den hellen Momenten, die er hatte, wand er sich vor Verlangen nach einem funktionierenden Gehirn – doch Besserungtrat nicht ein. Das Hämmern mit der Faust gegen den Kopf hatte nicht dieselbe Wirkung wie in meiner Kindheit, als der Vater aufstand und mit der Faust auf den Fernseher haute, weil das Bild angefangen hatte zu wandern.
An einem kalten Tag im Frühjahr 2009 machte Daniela den Vater zum Spazierengehen fertig. Er trug bereits Straßenschuhe und Jacke. Daniela setzte ihm den Hut auf und sagte:
»Hier hast du deinen Hut.«
»Das ist recht und gut. Aber wo ist mein Gehirn?«
»Dein Gehirn ist unter dem Hut«, sagte ich von der Küche aus.
Der Vater nahm den Hut ab, schaute hinein und erwiderte:
»Das wäre aber ein Wunder.« Er zögerte, dachte nach, und indem er den Hut wieder aufsetzte, fragte er schüchtern: »Ist es wirklich unter dem Hut?«
»Ja, es ist dort, wo es hingehört«, sagte ich.
Er zog die Brauen hoch und ging verdattert hinter Daniela zur Tür.
Solch surreale Momente häuften sich, und wenn ich davon erzähle, hört es sich gut an, ein wenig komisch und auch bizarr. Doch wenn man genau hinhört, vernimmt man neben der Komik, die befreiend ist, auch die Beunruhigung und die Verzweiflung. – Und immer öfter blieb die Komik aus.
Vieles war schwierig, weil der Vater nicht verstand, wozu es gut war. Er wurde zornig, weil er Medikamente schlucken musste, die ihm nicht schmeckten. Er wusste nicht,dass er ohne Medikamente noch schlechter dran wäre. Also fuhr er mich an:
»Das kannst du nicht mit mir tun!«
»Es ist ja nur zu deinem Besten.«
»Das kann jeder behaupten!«, gab er barsch zurück. »Glaub bloß nicht, dass ich auf eine so schwindlige Figur wie dich hereinfalle. Ich
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