Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
gehen, assen nichts mehr, beschmutzten vielfach die Liegestätten mit Blut, riefen mit schwacher und verzweifelter Stimme dem Sani, wenn sie wieder auf den Abort gehen sollten … Es war furchtbar anzusehen. Beinahe täglich konnte ich sehen, wie einer oder mehrere starben, von aller Welt verlassen und ohne jeden Beistand. Die meisten waren bei vollem Bewusstsein, aber ihr Körper war buchstäblich nur Haut und Knochen.
Diese Toten dürften jahrelang im Dunkeln weitergeflüstert haben, Tote, die flüstern, tun es eindringlich und eigensinnig. Würde abgestimmt, was schöner ist, tot oder lebendig, würden die Toten, die in der Mehrzahl sind, für den Tod votieren.
Dieser Zustand dauerte 2 Tage, dann war das Fieber weg. Nicht wunderlich war es, als ich bald darauf wieder Arbeitsdienst machen musste, und zwar musste ich mit, die Toten vergraben. Die zehn im Laufe des vergangenen Tages Gestorbenen wurden auf einen Leiterwagen geworfen und mit ein paar alten Decken zugedeckt, nachdem sie vorher nackt ausgezogen worden waren. Acht Gefangene wurden als Lasttiere eingesetzt, und so ging es durch ein paar Seitenstraßen Pressburgs auf einen Schuttabladeplatz. Dort war bereits schon ein ausgeschaufeltes Loch, in welches nun die Toten geworfen wurden. Mir oblag die unangenehme Pflicht, zuschaufeln zu müssen. Wieviel gestorbene Gefangene in der dortigen Gegend begraben lagen, konnte wohl niemand feststellen. Jedenfalls standen schon viele Gräber dort, wenn man überhaupt den Ausdruck »Gräber« hiefür gebrauchen kann.
In der Welt, aus der mein Vater kam, gab es eine solche Verlassenheit nicht, dort starben die Menschen zu Hause im Kreis der Familie und im Beisein des Pfarrers. Und die Totengräber kannten die Namen der Gestorbenen. Vielleicht hatte der Vater deshalb viele Jahre lang an Allerseelen für das Schwarze Kreuz gesammelt. Er traf sich sonst nie mit Veteranen, er erzählte uns Kindern nie Details. Er machte es mit sich und den Toten aus. Sie bevölkerten seinen Schlaf, bewohnten seine Phantasie und beeinflussten mit stillem Drängen seine Entscheidungen; das ist die Art der Toten.
»Ja, geh du nach Hause. Ich kann dir nur den einen Rat geben: Daheim bleiben und nicht fortgehen!«
In der Nacht von Sonntag auf Montag stand der Mond genau über der letzten Tanne vor meiner Wohnung und erleuchtete mein Bett. In der zweiten Nachthälfte und am Morgen, so kam es mir vor, gab es heftigen Wind. Auf der Treppe hinunter zu meiner Wohnungstür raschelten Zeitungsblätter, die der Wind dorthin geweht hatte, das machte meinen Schlaf unruhig. Trotzdem war in der Frühauch der zweite Container weg, von allen unbemerkt. Wir hatten noch geschlafen, als er abgeholt worden war. Einmal kurz die Augen zugemacht und wieder aufgemacht, und der Vorplatz lag leer in der Morgensonne da, als sei nichts gewesen.
In den Tagen darauf schafften die Mutter und ich bei jeder Autofahrt Altpapier, Altkleider und Altmetall weg. Langsam leerte sich auch die Garage. Es blieb lediglich einiges Holz und das, was wir für den Pfadfinderflohmarkt beiseitegestellt hatten: vergleichsweise wenig. Meine Mutter reiste wieder ab, ich selber blieb noch für einige Tage allein im Haus, mit dem Wissen, dass der Vater in manche der Zimmer nie zurückkehren würde. An Sonntagen und zu Familienfesten würde er in der Küche und in der Stube sitzen. Aber sein Schlafzimmer, das jetzt so leer wie eine Tanzfläche war, gehörte nicht mehr zu seiner Welt.
Ich ging oft im Haus herum, berührt von der Tatsache, dass hier jemand große Mühe aufgewendet hatte, um einen Platz zu schaffen, an dem man sich sicher und behaglich fühlen kann. Jetzt war alles zerrüttet, der Mann, das Haus, die Welt. Ich dachte, dass ich einmal ein Buch schreiben würde mit dem Titel Landschaft nach geschlagener Schlacht .
In diese Zeit fiel die dritte Mahd, Anfang September. Erich, der zweitjüngste Bruder meines Vaters, mähte den Obstgarten mit der Sense, alles händisch, Stück für Stück, das beruhigte mich. Der Spätsommer ist mir die liebste Zeit, wenn die großen Bäume mit den rotbackigen Äpfeln und gelben Birnen in der abgemähten Wiese stehen. Und immerweht ein Wind, und die Bäume knarren manchmal wie Fregatten, und in den Nachbargärten spielen Kinder. Und die Schatten der Bäume und Äste, die schon viel Laub verloren haben, sind in der tiefstehenden Sonne so klar und scharf konturiert wie sonst nie.
Von meinem Schreibtisch aus überblickte ich den
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