Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
Vertreter auf Gottes Erden, einer, der keine großen Hüpfer macht und alles leben lässt.«
Wenn ich den Vater mit einer Figur aus der Literatur vergleichen will, fällt mir Lewin ein, die männliche Hauptfigur in Anna Karenina ; und das nicht nur, weil Leo Tolstoi beschreibt, wie Lewin das Gras mit der Sense mäht. Was die beiden vor allem verbindet, ist der Wunsch, die Dinge zu verbessern. Noch heute kann sich der Vater im Garten des Heims umsehen und sagen:
»Hier gäbe es einiges zu verbessern. Das habe ich feststellen können mit meinem freien Auge. Es kommt mir komisch vor, wie sie das hier gestaltet haben. Ich verstehe nicht, was sie da für einen Vorteil haben wollen, da komme ich nicht mit.«
Oft war er mit weitreichenden Planungen beschäftigt:
»Ideen hätte ich viele, aber sie kommen nicht mehr heraus.«
Seine ausgebeulten Hosen fallen mir ein und dass er unter dem Sonnenschirm die Garage verputzt hat. Die Nachbarn haben unter dem Sonnenschirm geschlafen.
Oft trug er ein Taschentuch auf dem Kopf, in dessen vier Ecken er kleine Knoten gemacht hatte, als Schutz gegen die Sonne.
»Und was ist das!?«
»Das sind Bäume, Papa.«
Er zog die Brauen hoch:
»Die erwecken aber nicht den Eindruck von Bäumen.«
Jetzt saßen wir auf einer Gartenbank, und er schaute mir interessiert dabei zu, wie ich Notizen in ein altes Schulheft machte, er hielt das Heft fest, damit es mir beim Schreiben nicht wegrutschte. Er fragte:
»Wie ist es dir ergangen mit deinen Papieren?«
»Mit meinen Papieren ist es mir immer gut ergangen«, antwortete ich.
»Mir auch«, sagte er.
Es ist eine seltsame Konstellation. Was ich ihm gebe, kann er nicht festhalten. Was er mir gibt, halte ich mit aller Kraft fest.
Solche Stunden ziehen sich in die Länge, und ich habe Zeit, auf vieles achtzugeben. Kaum etwas entgeht meiner Aufmerksamkeit, ich bin klar und geistesgegenwärtig, alle Dinge strömen mit einer Deutlichkeit auf mich ein, als verbreite sich plötzlich ein starkes Licht um mich her.
Der Vater überwachte mein Schreiben, als wolle er sagen: Sitz still, mein Sohn – du musst deine Lektion lernen!
Es gibt da etwas zwischen uns, das mich dazu gebracht hat, mich der Welt weiter zu öffnen. Das ist sozusagen das Gegenteil von dem, was der Alzheimerkrankheit normalerweise nachgesagt wird – dass sie Verbindungen kappt. Manchmal werden Verbindungen geknüpft.
Als das vereitelt wurde, was wir uns erhofften, da erst lebten wir.
Das Glück, das mit der Nähe zum Tod eine besondere Dichte erhält. Dort, wo wir es nicht erwartet hätten.
Es halten wie General de Gaulle, der auf die Frage, wie er zu sterben wünsche, geantwortet hat: »Lebend!«
Als ich an einem Samstagnachmittag Tante Berti besuchen ging, die erste Frau von Paul, war ich knapp neunzehn Jahre alt. Berti wollte sich von ihren vielen Nichten und Neffen verabschieden. Ein Geistlicher verließ gerade das Haus. Er hatte Tante Berti beim Gehen gute Besserung gewünscht, sie sagte zu mir, man wünsche jemandem, derim Sterben liegt, nicht gute Besserung, das sei lächerlich. Sie schien enttäuscht und gekränkt. Dieser kurze Moment, in dem eine sterbende Frau, Mutter von drei Kindern, zwei davon halbwüchsig, angesichts des Todes forderte, vor den Tatsachen die Augen nicht zu verschließen, machte einen tiefen Eindruck auf mich. Ich habe mich von diesem Satz nie ganz erholt.
Manchmal lernt man in einem Augenblick mehr als in einem ganzen Jahr Schule.
In diese Zeit fallen auch die traurigen Ereignisse rund um den Freitod dreier Patenkinder meines Vaters: Joe, Maria und Irmi. Es ist das große, in seiner unfasslichen Zufälligkeit nur schwer zu verarbeitende Familienunglück, das nicht aufhört, auf allen zu lasten.
Als ich den Vater darauf ansprach, konnte er sich nicht erinnern.
»Nein, davon weiß ich nichts«, sagte er.
Dafür ist seine Mutter, die ebenfalls in dieser Zeit starb, wieder lebendig:
»Ich muss nach Hause, die Mam wartet auf mich!«
Schicksal war jahrtausendelang ein elementarer Begriff. Heute ist es fast verpönt, von Schicksal zu reden, alles muss erklärt werden. Aber manchmal kommt etwas auf uns zu, das wir nicht erklären und auch nicht aufhalten können. Zufällig trifft es die einen, die anderen zufällig nicht. Warum? Das bleibt ein Rätsel.
Die Sehnsucht nach dem Durchlebten und nach den Menschen, die uns zurückgelassen haben.
Irgendwann wird der Vater den Atemzug tun,
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