Alte König in seinem Exil - Alte König in seinem Exil
Obstgarten und die Nachbarschaft. Onkel Erich und Tante Waltraud arbeiteten fast täglich auf dem Feld. Einmal sah ich einen etwa sechsjährigen Türkenbuben, der im Nachbarhaus wohnt und den ich schon öfter mitarbeiten gesehen hatte, hinter Onkel Erich herlaufen, während dieser das Heu auf den Leiterwagen lud. Der Bub aß einen Apfel, den er aufgelesen hatte, er nannte Onkel Erich »Opa«, was wohl beiderseits der Ausbildung einer neuen kulturellen Identität förderlich war. Denn die traditionelle Gesellschaft, in der mein Vater und seine Geschwister ihre Kindheit verbracht haben, ist zerfallen. Es gibt noch bäuerliche Arbeiten, aber kein bäuerliches Leben mehr. Der sogenannte Strukturwandel hat aus Wolfurt eine Wohn- und Industriegemeinde gemacht, und wenn jemand einen hochstämmigen Obstbaum pflanzt, erhält er von der Gemeinde einen Zuschuss, damit hie und da noch ein Winkel des Dorfes an eine Kultur erinnert, die hierzulande an ihr Ende kommt.
An dem Apfel nagend, trottete der Bub ein Stück über das Feld und antwortete auf ein fernes Kinderrufen:
»Kuckuck! Kuckuck!«
Er ging zur Grundstücksgrenze, wo im vergangenen Jahr im ehemaligen Obstgarten der Nachbarn zwei Neubautenentstanden sind. Der Bub schaute einem jungen Mann dabei zu, wie er seine Tochter an Hand und Fuß durch den kleinen Garten schwang und dann mit dem Mädchen über die Verandatür ins neue Haus ging. Der Mann war der Enkel der Frau, von der mein Vater das Zimmer im Pflegeheim übernommen hatte. Der Bub rannte zu Erich zurück. Erich zog den mit Heu beladenen Leiterwagen Richtung Haus. Kurz darauf war der Obstgarten leer, und die Stoppeln schimmerten in einem zarten Hellgrün.
Aus Friedrichshafen kam der Zeppelin geflogen und drehte an der Kante zum Oberfeld um – wie sommers bei gutem Wetter jeden Tag mehrere Male. Ein Mäusebussard flog über dem Unterfeld, zwei Rabenkrähen attackierten ihn im Flug, hackten ihm mit den Schnäbeln in den Rücken und gegen die Flügel, was den Bussard aber nicht zu stören schien; zumindest machte er keine Anstalten, den Hieben auszuweichen. Gemächlich glitt er hinüber zur Bregenzer Ache.
Ich dachte daran, wie es gewesen war, wenn ein Gewitter heraufzog und fünfzehn oder zwanzig Familienmitglieder in fieberhafter Arbeit versuchten, das Heu vor dem Regen einzubringen. Die lauten Rufe der Männer in Richtung des Traktors, der den Heuwagen zog, das Stöhnen, wenn eine Gabel Heu hinauf auf das Fuder gestoßen wurde, wir Kinder, die das Heu oben auf dem Wagen entgegennahmen, es verteilten und in die Ecken stampften, die raschen Sandalenschritte der Frauen, die hinter dem Wagen die liegengebliebenen Halme zusammenrechten. Über allem das bedächtige Tuckern des Traktors und das näher kommendeGewittergrollen. Und dann die rasche Fahrt Richtung Tenne. Wir Kinder oben auf dem Fuder legten uns auf den Bauch, damit uns die Äste der Birnbäume, unter denen der Traktor durchfuhr, nicht um die Ohren schlugen. Kleine Heubüschel blieben an den Ästen hängen und hingen dort noch Tage später. Und die großen Regentropfen, die uns auf die nackten, vom Heu zerkratzten Beine klatschten. Und das freudige Gekreisch der kleinen Cousinen und Cousins, die hinter dem Wagen herliefen. Jemand war schon mit dem Fahrrad vorausgefahren und hatte das Tor zur Tenne geöffnet. Der Heuwagen wurde unter lautem Rufen unter den Schutz des Vordaches manövriert. Dann das Prasseln des Regens auf dem Vordach und auf der Straße. Und die heiße Luft in der Tenne zum Ersticken.
Später saßen wir im Wohnzimmer der Großeltern, tranken Saft und aßen Eis. Zu Hause unter die Dusche, die Nase voller Heustaub, ein schnelles Abendessen vor dem Fernseher, schon zu müde, um den Bildern noch folgen zu können, sie fühlten sich wie vorweggenommene Träume an. Dann ab ins Bett, wo die zerkratzten Waden in den rauhen Leintüchern ein wohliges Gefühl erzeugten. Sofort eingeschlafen.
In Erinnerung geblieben ist mir auch, dass sich die Söhne der Großeltern bei Sonnenaufgang zum Mähen des Bühels trafen – das geschah in den siebziger und frühen achtziger Jahren dreimal im Jahr. Meist waren sie zu fünft, Emil, August, Paul, Robert und Erich. Jeder brachte seine Sense und seinen Wetzstein mit, Paul und mein Vater inihren alten Fußballschuhen, wegen der Stoppeln, die guten Halt boten, wenn sie auf eine Kapuzinerschnecke traten. In gleichmäßigen Reihen mähten die fünf Brüder den steilen Hang. Das Kinderzimmer, das ich mit Werner
Weitere Kostenlose Bücher