Alte Narben - [Kriminalroman aus der Eifel]
begann Lorenz. »Ich bin auf der Suche nach Gustav, und ich dachte, er wäre vielleicht bei dir.«
Bärbel lächelte. »Um diese Zeit? Eher nicht. Und wieso suchst du ihn überhaupt? Ist er nicht in seinem Apartment?«
»Nee, das ist es ja. Und seine Zimmertür stand auf.«
»Der Gustav ist doch ein Stromer«, meinte Bärbel. Und dann stutzte sie. »Er ist weggegangen und hat seine Tür offen gelassen?«
Lorenz nickte. »So sieht’s aus. Vielleicht ist er mal wieder auf Extratour unterwegs.«
»Lass uns ihn suchen«, sagte Bärbel schnell. »Wer weiß, wo er landet, wenn er wieder schlafwandelt. Ich zieh mir nur rasch Schuhe an.«
Wenig später schlichen sie durch das Haus. Sie liefen, ständig auf der Hut vor der immer wachen Sibylle Klinkenberg, alle Gänge der Seniorenresidenz ab. Bald kamen sie zu dem Schluss, dass er das Gebäude verlassen haben musste. Sie holten sich aus ihren Zimmern warme Jacken und eilten ins Freie.
»Wo sollen wir nur mit der Suche beginnen?«, fragte Bärbel, als sie die dunklen, menschenleeren Gassen Nideggens vor sich hatten.
Lorenz erinnerte sich: »Einmal hab ich ihn am Marktplatz aufgesammelt. Lass uns zuerst dorthingehen, und dann sehen wir weiter.«
Die beiden gingen, so schnell es Lorenz möglich war, über die kopfsteingepflasterte Straße, vorbei an allerlei Geschäften, deren Auslagen sich vom bunten Treiben des Tages zu erholen schienen, vorbei am Rathaus bis zum Marktplatz. Im Zentrum beschattete ein alter Baum die Szenerie. Er ließ dem fahlen Mondlicht nur wenig Raum, sich hier auszubreiten. Hinter dem Baum plätscherte Wasser in einem Brunnen, dessen Korpus aus einer in Scheiben geschnittenen Kugel bestand. Dort, wo eine steinerne Einfassung das Wasserbecken umrundete, war die Silhouette einer Gestalt zu erkennen.
»Da sitzt er!«, rief Bärbel aus und lief über den Platz. Lorenz konnte so schnell nicht folgen. Doch er sah ebenso wie Bärbel, als sich die Gestalt erhob und ihnen entgegenblickte, dass es nicht Gustav war.
»Herr Kratz«, sagte Bärbel enttäuscht und überrascht zugleich. »Was machen Sie denn hier?«
Der Alte blickte sie einen Moment stumm an. Erst als Lorenz zu ihnen aufgeschlossen hatte, antwortete er: »Vielleicht etwas Ähnliches wie Sie, vermutlich jedoch etwas ganz anderes.«
Lorenz raunte leise: »Kommissar Wollbrand hatte in diesem Moment keine Lust auf rätselhafte Sprüche.« Und laut sagte er: »Meister, es ist mir gleich, was Sie hier tun. Jedoch gestatten Sie die Frage, und ich verbinde dies mit der inständigen Bitte um eine verständliche Antwort, ob Sie vielleicht unseren Freund Gustav Brenner gesehen haben?«
Bärbel fügte hinzu: »Bitte, Herr Kratz, der Gustav schlafwandelt ab und an, und wir möchten nicht, dass er hier in dunkler Nacht so herumläuft.«
Kratz lächelte. »Denken Sie nicht auch, dass das Schlafwandeln des Nachts hier wesentlich ungefährlicher ist als am Tage? Aber ich möchte Sie nicht ärgern: Ich begegnete Ihrem Freund in der Bewersgasse, hier gleich um die Ecke. Das ist noch gar nicht lange her.«
»Und?«, fragte Bärbel aufgeregt. »Was hat er gemacht? Hat er Sie erkannt? Hat er gesprochen?«
»Ich denke nicht, dass er mich erkannt hat. Ich sprach ihn an, und er murmelte etwas davon, dass diese Welt ein einsamer Ort sei und von Gott verlassen. Ich stimmte ihm zu und ging weiter.«
»Hier sind wohl alle ein bisschen meschugge«, brummte Lorenz. »Aber wenigstens hört sich das nach Gustav an.«
»Meschugge mag zutreffen, mein Lieber«, bestätigte Kratz. »Aber wenn Sie jetzt gehen, erwischen Sie Ihren Freund bestimmt noch innerhalb der nächsten fünf Minuten.«
»Sie wollen uns wohl loswerden«, versetzte Lorenz. »Aber sei es drum, komm Bärbel, lass uns gehen!«
Die beiden eilten weiter und suchten Gustav dort, wo der alte Kratz ihn zuletzt gesehen hatte. Sie liefen die Straße hinab Richtung Dürener Tor und bogen vorher links in die Bewersgasse ein. Dort fanden sie Gustav nicht, doch hatten sie dies auch gar nicht erwartet. An der nächsten Abbiegung stockten sie kurz. Lorenz vermutete, dass ein Schlafwandler sich eher abwärts bewegen würde, und wandte sich nach rechts. Wieder einem Gefühl folgend versuchten sie es anschließend nach links, wo die Straße in einem ruhigen Parkplatz endete. Es war sehr dunkel dort, und so hätten sie Gustav fast übersehen, der dort still auf einem großen Stein saß.
»Gustav!«, rief Bärbel erleichtert aus. »Da bist du ja!«
»Was macht ihr denn
Weitere Kostenlose Bücher