ALTEA (Sturmflut) (German Edition)
fabelhafter, freier Ort. Sie sah schon von außen wie ein Käfig aus und sie fühlte sich im Innern noch viel mehr so an. Das gesamte Land entwickelte sich langsam zu einer Schlinge um meinen Hals, die mir das Atmen schwer machte und an der ich langsam erstickte. Alles in mir wollte von hier fliehen. Warum musste es nur so sein?
Emil Sormansk zeigte uns noch weitere Teile der Stadt. Selbstverständlich lagen sie alle auf den hören Ebenen. Solange ich nicht fühlen konnte, wie weit ich tatsächlich über der Erde war, hielt sich meine Höhenangst in Grenzen, dennoch konnte ich dem, was um mich herum war, keine wirkliche Aufmerksamkeit schenken. Mein Interesse galt dem, was wir nicht sahen: Menschen. Nirgendwo waren Menschen zu sehen. Abgesehen von den Soldaten und Polizisten, die die leeren Gebäude bewachtem. Wir wanderten durch eine groteske Geisterstadt. Immer wieder suchte ich die Blicke der anderen. Auch Veit und Gry schien irgendetwas Unbehagen zu bereiten. Nur Radu wirkte vollkommen desinteressiert. Wann immer unsere Blicke sich trafen, wurde sein Gesichtsausdruck für einen kurzen Moment weich, dann blickte er wieder auf seine Stiefel. Ich versuchte zu sehen, ob ihn etwas beschäftigte, aber konnte es beim besten Willen nicht sagen.
Unsere Führung neigte sich dem Ende zu und wir wurden zu den Fahrstühlen zurückgebracht. Mein Körper begann bereits wieder vor Angst zu zittern, als plötzlich grelles Licht durch die Häuserschluchten und Lücken brach. Die Sonne ging unter. Die Strahlen waren so grell und so rot, dass die Stadt in Flammen zu stehen schien. Es war ein unwirklicher Anblick, der mich an meinen letzten Tag in Novi erinnerte. Ich war mir nie sicher gewesen, ob der Himmel wirklich so hell erleuchtet gewesen war, oder der Entzug von der Medikation mich nur Dinge hatte sehen lassen, die gar nicht da gewesen waren. Jetzt glaubte ich, dass es echt war. Vor uns lag ein Himmel, wie ein Feuermeer. Es war wunderschön und erschreckend zur gleichen Zeit. Diese ganze Stadt war es. So merkwürdig hier auch alles auf mich wirkte, dass es mich zugleich unglaublich faszinierte konnte ich nicht leugnen.
„Alles okay bei dir?“ Radus Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah ihn an, doch mein Blick war ganz unklar. Lichtflecken tanzten vor meinen Augen umher.
„Ja. Alles okay.“ Sagte ich, während ich versuchte die weißen Punkte wegzublinzeln. Radu hatte noch nicht einmal Luft geholt, da war Emil schon an unserer Seite und unterbrach das kurze Gespräch.
„Es wird zwar schon langsam dunkel, aber es gibt noch einen Ort, an den wir heute fahren. Kommen Sie.“ Mit diesen Worten schob er mich Richtung Fahrstuhl, stets darauf bedacht, mich nicht zu sehr anzufassen. Radu hatte Recht. Man wollte nicht, dass wir uns allein unterhielten. Zumindest wollte Emil Sormansk es nicht.
„Und was für ein Ort soll das sein?“ fragte ich skeptisch. Nach allem was wir bisher gesehen hatten, zweifelte ich daran, dass es wirklich von Interesse für uns war.
„Wir gehen jetzt-„ Emil machte eine kurze, geradezu dramatische Pause „an den Ort der ‚Zuflucht‘.“
6
„Der Ort der Zuflucht, ist der Wohnkomplex, in dem alle Flüchtlinge untergebracht werden.“ Wir saßen bereits wieder im Wagen, als Emil mit den Erklärungen fortfuhr. „Um genau zu sein, ausschließlich die Flüchtlinge aus Europa. Der Komplex heißt auch nicht wirklich ‚Ort der Zuflucht‘. Das ist nur ein etwas blumigerer Ausdruck, den wir gerne verwenden. Eigentlich heißt das Gebäude ‚Objekt 208‘. Klingt allerdings nicht ganz so einladend.“ Sagte er schmunzelnd. Sofort schoss mein Blick zu ihm.
„Wie viele Menschen leben dort?“ Fragte ich mit mehr als nur ein wenig Neugier in der Stimme. Mit einer Hand krallte ich mich am Sitz vor mir fest und rutschte ein Stück vor. Ich wollte jedes Wort genau hören. Emil überlegte einen Moment und schob dabei sein kleines Kinn hin und her.
„Hm… Schätzungsweise dreihundert bis vierhundert Menschen. Es sind nicht so viele, wie man meinen würde. Die Grenzen sind sehr gut abgesichert und eine Flucht ist sehr riskant und auch gefährlich. Aber das muss ich Ihnen ja nicht sagen, nicht wahr?“
Er drehte sich ein Stück zu mir um und lachte kurz auf. Es war kein hämisches Lachen, doch in
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