Altenberger Requiem
Kaffee. Er schmeckte viel voller und stärker als der, den ich kochte. Trotzdem war er nicht bitterer.
»Du musst pro Kanne einen knappen Kaffeelöffel Kakao mit in das Kaffeepulver geben«, erklärte Wonne, die offenbar schon wieder meine Gedanken lesen konnte.
Ich nickte, trank versonnen vor mich hin - und bemerkte nach ein paar Sekunden, dass Wonne gar nichts sagte.
»Wolltest du nicht über einen Job reden?«, fragte ich. »Ich bin ganz Ohr.«
»Dafür müssen wir wegfahren. Ich habe für zwölf Uhr einen Termin vereinbart.«
»Wie bitte? Ich habe gedacht, wir könnten …«
»Können wir auch. Sieh es als kleinen Ausflug an, okay? Es dauert nicht lange, und danach …« Sie wiegte vielsagend den Kopf. »Ich meine, ich habe heute nichts weiter vor …«
»Wohin fahren wir denn?«
»Wirst du dann schon sehen …«
»Ich denke, du willst mir sagen, worum es geht?«
»Sag ich ja auch. Dauert halt nur noch was.«
Ich sagte nichts und aß. Sie schwieg ebenfalls. Ließ zu, dass ich mir meine Gedanken machte. Trank ihren Kaffee.
»Erzähl mir was über dich«, sagte ich.
»Das Wichtigste weißt du doch.«
»Wirklich? Was denn?«
»Sagen wir mal so: Gefühle sind wichtiger als Fakten. Sie geben den Dingen eine Bedeutung, einen Sinn. Was das Herz nicht weiß, das weiß man nicht.«
»Heißt das Zitat nicht ›Man sieht nur mit dem Herzen gut‹?«
Wonne konnte nicht wissen, dass ich dieses Zitat, das man auf allen möglichen erbaulichen Postkarten oder in Büchern fand, nicht mochte. Wenn alle immer nur auf ihr Herz, also auf ihr Gefühl hören würden, was dabei wohl herauskäme …
»Das läuft auf dasselbe hinaus«, sagte sie, wiegte wieder den Kopf und strahlte mich an.
Schlagartig brach meine Meinung über den Postkartenspruch in sich zusammen. Mein Herz sah gut. So gut wie nie. Sollte sie mich doch mitnehmen, wohin sie wollte. Hauptsache, wir waren zusammen.
Als sie losfuhr, war es wie eine Fortsetzung unserer kleinen Rallye von gestern.
Wonne bog von der Landstraße auf die A 3 ab. Von Lärm und Fahrtwind umgeben, krochen wir mit knapp achtzig Stundenkilometern auf der rechten Spur dahin. In Langenfeld verließ sie die Autobahn wieder, und kurz darauf lenkte sie den Wagen in eine Parktasche vor einem grauen, kastigen Haus. Sonntägliche Einsamkeit umgab uns.
»Hättest du dir keine nettere Umgebung aussuchen können?«, fragte ich.
»Das lag leider nicht in meiner Macht.«
Ich kniff die Augen zusammen. Neben der Haustür waren ein paar Aluminiumschilder befestigt. In dem Gebäude befanden sich, so weit ich das auf die Entfernung lesen konnte, mehrere Arztpraxen.
Wonne wollte aussteigen, aber ich hielt sie an der Schulter fest.
»Ich möchte erst mal erfahren, was mich da drin erwartet.«
»Du wirst es schon sehen.«
»Nein, Wonne. Das geht so nicht. Du weißt, ich … also …«
»Ja?« Ihr Blick war die pure Aufforderung, weiterzusprechen.
»Na ja, ich mag dich halt. Aber du musst ehrlich zu mir sein. Schon die Sache gestern … Das hätte ins Auge gehen können.«
Sie verzog den Mund. Mit einem Mal war der Ausdruck des ewigen Lächelns, der Belustigung über die Welt verschwunden, und sie wirkte ungewohnt ernst. Ich hatte kein Problem damit. Der Moment der Entscheidung, dass mich diese Frau ernsthaft interessierte, war längst vorüber. Und nun war es mir recht, alles über sie zu erfahren. Von mir aus auch ihre dunklen Seiten zu entdecken.
»Da drin wartet Frau Dr. Sabine Rath«, sagte sie schließlich. »Ich habe einen Termin bei ihr.«
»Schön. Und wer ist das? Eine Ärztin?«
»Sabine Rath ist Rechtsanwältin. Sie vertritt Reinhold Hackenberg.«
»Auch schön. Und wer ist das schon wieder?«
»Remi! Hast du das etwa vergessen? Der Mord gestern … Die alte Frau hieß Klara Hackenberg. Und Reinhold Hackenberg, der vor unseren Augen festgenommen wurde, ist ihr Sohn.«
Es knallte geradezu, als das Brett vor meinem Kopf entzweibrach und sich in Luft auflöste. Die letzten Sägespäne, die als Wolke herumschwebten, senkten sich langsam zu Boden.
»Du hast einen Termin bei der Anwältin von diesem Kerl gemacht?«
»Exakt.«
»Am Sonntagmittag?«
Mir war klar, dass Anwälte so einiges für ihre Mandanten unternahmen, aber sich gleich am nächsten Tag, und dann auch noch sonntags, mit einem Detektiv zu treffen …
Mit einem Detektiv!
Das nächste Brett krachte.
»Soll das etwa heißen …?«
Wonne nickte nur. »Können wir jetzt reingehen? Wir sind spät dran. Ich fände
Weitere Kostenlose Bücher