Altenberger Requiem
Hin und wieder taten sich tatsächlich reizvolle Ecken auf; es gab sogar nette historische Häuschen, schmuck restauriert, als hätte sich die Stadt besonders herausputzen wollen. Doch war man um die nächste Ecke, landete man im Industriegebiet, steuerte auf eine Fabrikhalle zu oder näherte sich der schrecklichsten Schönheit dieser Stadt - dem riesigen Bayergelände, das man auch nachts durch das kilometerweit sichtbare Bayer-Kreuz leicht finden konnte.
Mein Ziel lag woanders. Und es war viel versteckter. Nördlich der Ost-West-Achse der A1, zwischen Fixheide und Küppersteg, wo die Bahnlinie einen Bogen um zwei Baggerseen machte, von denen der eine »Silbersee« hieß, ging es in eine schmale Straße.
Rechts erhoben sich schmutzige Fassaden, links eine verwilderte kleine Anhöhe, dahinter Gleisanlagen - die Ausläufer des Güterbahnhofs.
Gleich nach der Abzweigung öffnete sich vor den aufwuchernden Büschen und Bäumen eine Bucht mit platt gefahrener Erde, wo ich den Golf parken konnte. Ich stellte den Wagen ab und ging zu Fuß weiter.
Ein Stück entfernt ragte eine Dom-Kölsch-Werbung auf, darunter der Hinweis: »Bundeskegelbahn«. In diesem Haus hatte laut Unterlagen Matthias Büchel alias Matze gewohnt. Vielleicht war es ja immer noch sein Zuhause.
An der Klingelleiste fehlten die Schilder. Es gab nur Reste von Klebestreifen, mit denen sie früher befestigt gewesen waren. Ich drückte auf einen der Knöpfe, und erst in diesem Moment bemerkte ich, dass hier etwas nicht stimmte. Der Einsatz mit den Klingeln saß nur lose in seinem Gehäuse. Ich konnte ihn herausziehen; er wurde bloß noch durch ein paar marode Drähte gehalten.
Jetzt sah ich auch die quer verlaufenden Bretter auf der anderen Seite des geriffelten Türglases. Die Fenster der Kneipe nebenan waren dunkel. Laub, zerdrückte Zigarettenpackungen, Plastikflaschen und zermatschtes Zeitungspapier hatten sich im Eingangsbereich angesammelt.
Das Haus war unbewohnt. Wahrscheinlich wurde es demnächst saniert. Oder abgerissen. Oder es dämmerte weiter in seinem schlechten Zustand vor sich hin.
Jedenfalls fand ich hier keinen Matze.
Ich zündete mir eine Zigarette an - die erste heute. Ich wunderte mich selbst über meine Disziplin. Wahrscheinlich lenkte mich Wonne vom Rauchen ab. Langsam schlenderte ich zum Wagen zurück. Es war einfach zu lange her. Der Typ konnte wer weiß wo sein.
Ich sah meine kleine Spur gerade ins Nichts zerrinnen.
Jetzt hätte ich doch gerne Wonnes Hilfe gehabt, um in der Straße von Haus zu Haus zu gehen und nach Matze zu fragen. Eine ziemlich zeitaufwendige Sache.
Quatsch, dachte ich und setzte mich ins Auto. Es geht auch anders.
Als ich nach meinem Handy griff, begann es zu klingeln. Als habe mein Gedanke es auf telepathische Weise in Gang gesetzt.
»Jutta« meldete das Display.
Die hatte ich vollkommen vergessen. Aber ich konnte sie nicht einfach wegdrücken. Also ging ich ran.
»Hallo, Jutta.«
»Remi, es tut mir so leid. Ich hab mich total blöd benommen«, sagte sie zerknirscht.
»Ist schon gut.«
»Nein, ist es nicht. Ich hasse es, Krach mit dir zu haben … Sag mal, wieso habe ich dich denn nicht erreicht? Ist irgendwas?«
Ihre Stimme war jäh von niedergeschmettert zu misstrauisch umgeschlagen. In dieser Geschwindigkeit war das eine emotionale Glanzleistung.
Ich versuchte, mir so schnell wie möglich eine Meinung zu bilden, ob ich ihr von dem neuen Fall erzählen sollte.
»Nein, ich war nur unterwegs.«
»Mit Wonne, oder?«
»Und wenn schon.«
»Ja, ist ja okay.«
Jutta benahm sich tatsächlich wie eine Exfreundin, mit der man »nur« noch befreundet war.
»Hauptsache, du hast deinen Spaß«, fügte sie hinzu.
»Ist bei dir alles in Ordnung?«
Sie seufzte. Aha, dachte ich. Da liegt also der Hase im Pfeffer. Jutta hat ein Problem. Und wahrscheinlich ein großes. Wenn ich jetzt nicht aufpasse, dann …
»Ehrlich gesagt, ist nichts in Ordnung.«
»Was ist denn los?«
»Ich weiß nicht, ob ich das so am Telefon sagen kann, Remi.«
»Sollen wir uns treffen?« Falsche Frage, dachte ich. Aber es war zu spät.
»Wenn du vielleicht mal die Möglichkeit hättest…«
Etwas Wummerndes näherte sich. Ein Wagen fuhr in die Straße, ein aufgemotzter Mercedes in Goldmetallic. Er hielt vor dem heruntergekommenen Haus. Das wuchtige Presslufthämmern brach ab. Zwei Typen stiegen aus, checkten cool die Umgebung und schlossen die Tür zur Kneipe auf. Mich hatten sie wahrscheinlich vor lauter Coolness
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