Altenberger Requiem
Schotterweg, neben dem es steil in die Tiefe ging.
Mir kam ein Gedanke. Mit wenigen Schritten stand ich am Abgrund und hangelte mich von Baumstamm zu Baumstamm den Abhang hinunter. Es zog etwas in den Armen, war aber leichter, als ich befürchtet hatte. Sekunden später stand ich unten auf den Resten des alten Bahnsteigs und blickte zur Brücke hinauf, wo Wonne zwischen den Ästen weit oben am Geländer stand und mich beobachtete.
»Ich komme auch runter«, rief sie, löste sich von den Metallverstrebungen und verschwand links neben der Brücke.
Vorsichtig ging ich ein paar Schritte und trat auf Müllreste. Eine verdreckte Plastiktüte. Getränkeflaschen. Kaputtes Glas. Es knirschte unter meinen Schuhsohlen.
Man kam sich vor wie in einem Tunnel. Kein Unterholz, kein Gebüsch. Der Raum war groß und frei - und oben von den sich berührenden Ästen und Blättern der Bäume an den Hängen geschützt. Von der Brücke war durch das Gewirr zwar der Rest des Dammes zu sehen. Trotzdem konnte man sich hier unten sicher ganz gut verstecken, wenn man es darauf angelegte. Ich fragte mich, wie lang dieser Tunnel war. Wahrscheinlich konnte man ihn einige Kilometer abwandern.
Wonne kam vorsichtig den Hang herunter. Sie trug nur flache sommerliche Ballerinas.
»Pass auf, dass du nicht in das Glas trittst«, sagte ich. »Das dringt durch deine Schuhe.«
Sie erreichte die Talsohle und blieb neben mir stehen. »Das ist ja seltsam hier. Wie in einer Kirche. Oder in einem geheimnisvollen Wald.«
Ich ging ein Stück auf bemoostem Beton entlang, auf dem man früher auf den Vorortzug gewartet hatte. Wo der Belag aufgebrochen war, wuchs Gestrüpp.
Ein Stück glänzende Alufolie auf dem Boden zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich bückte mich und hob es auf. Es war der Rest einer Filmtablettenpackung. Der Medikamentenname war noch zu lesen.
»Novalgin«, sagte Wonne. »Ein Schmerzmittel.«
»Woher weißt du das so genau?«
»Meine Mutter hatte Krebs«, sagte sie. »Hab ich das nicht erzählt?«
»Woran deine Mutter starb, hast du nicht gesagt.«
»Man lernt jedenfalls eine Menge, wenn man einen Krebskranken in der Familie hat. Das hier nimmt man gegen starke Schmerzen.«
»Ob das Ding eine Spur ist? Wenn er sich hier versteckt hat? Vielleicht ist unser Täter krebskrank?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ist es auch einfach nur Müll.«
Wir fuhren zurück zu Mannis Haus. Wonne stellte ihren Wagen neben meinem Golf ab.
»Was ist los mit dir?«, fragte sie. »Du hast die ganze Zeit kein Wort gesagt.«
Ja, ich hatte gegrübelt, und das so sehr, dass mir die Fahrt so schnell wie ein Blitzschlag vorkam.
»Ich musste nachdenken.«
»Du glaubst, dass die Sache zu schwierig ist, oder? Dass es keine Beweise gibt, die Reinhold Hackenberg entlasten …«
Ich schüttelte die Gedanken ab, mit denen ich während der Fahrt beschäftigt gewesen war. Sie hatten gar nichts mit dem Fall zu tun. Jedenfalls nicht mit Spuren oder Ähnlichem. Sie drehten sich um Wonne. Ich ahnte, dass es bei meinem nächsten Schritt Ärger geben konnte. Aber davon sagte ich erst mal nichts.
»Am Anfang war ich ja skeptisch. Aber jetzt bin ich nicht mehr so sehr davon überzeugt, dass er’s war«, sagte ich. »Nicht dass ich ihm das nicht Zutrauen würde. Aber dafür war mir zu viel Planung im Spiel. Zu viel Vorbereitung. Es passt zu so einem Typen einfach nicht, hinter der Mutter herzufahren und sie auf den Spielplatz zu locken.«
»Wir wissen auch immer noch nicht, was sie auf dem Spielplatz gemacht hat. Sie wollte zum Dom, aber der direkte Weg geht nicht über den Spielplatz.«
Ich nickte. Wonne hatte recht. Klara Hackenberg war zwar zum Beten nach Altenberg gefahren. Aber sie konnte sich darüber hinaus mit jemandem getroffen haben.
»Sie hat sich wahrscheinlich mit jemandem getroffen«, sorgte Wonne für ein Echo meiner Gedanken.
»Jetzt schaust du wieder so komisch«, sagte sie. »Was ist denn?«
»Komm erst mal mit rein.«
Ich schloss die Haustür auf, ging durch ins Wohnzimmer und legte die Mappe auf den Tisch. Wonne war unsicher. Ich konnte es spüren. Ihr sonst immer lächelndes Gesicht war überschattet.
»Das hat mir Frau Dr. Rath in der JVA gegeben«, sagte ich.
»Und was steht da drin?«
Ich schlug die Mappe auf. Sie enthielt die Kopien von zusammengehefteten Protokollen, Formularen und Fotos. Es waren sogar zwei Zeitungsartikel dabei, die nicht zur Polizeiakte gehörten. Wahrscheinlich hatte Frau Dr. Rath sie aus dem Internet geholt und
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