Altenberger Requiem
von der Landstraße abbiegen musste.
Durch Wiesen und Weiden ging es hinab ins Tal und dann durch dichten Wald. Maria in der Aue war ausgeschildert. Die Straße wurde immer schmaler, und dann sah ich etwas oberhalb von mir über einer riesigen grünen Wiese ein breit hingestrecktes Haus am Hang liegen. Davor drängten sich runde weiße Sonnenschirme.
Ich stellte den Golf ab und machte mich an den Aufstieg. Eine asphaltierte, schmale Straße für Fußgänger schwang sich hinauf von den Parkplätzen zum Eingang des Hauses. Ich hatte erst geglaubt, es handele sich um ein Ausflugslokal, aber jetzt wurde mir klar, dass Maria in der Aue auch ein Hotel sein musste. Der Weg führte zur Stirnseite des länglichen Gebäudes. Über dem Halbrund eines Tores schwebte ein runder Turm aus Fachwerk mit einem spitzen Dachkegel. Dieses eine Element wirkte eigentümlich mittelalterlich, während der Rest des Gebäudes eher wie ein kleines Schlösschen aussah, die Front dem Tal zugewandt.
Auf der Terrasse waren fast alle Tische besetzt. Es war Viertel nach zwölf, und man aß zu Mittag. Die Sonnenschirme beschatteten grüne Möbel; auf den Stühlen sorgten grün-weiß gestreifte Kissen für Bequemlichkeit.
Was mich sofort gefangen nahm, war der Blick über die herrliche Wiese, die sich wie eine kleine Alm unterhalb der Terrasse absenkte und weit unten von der schmalen Straße begrenzt wurde, über die ich heraufgekommen war. Dahinter erhob sich der Wald, in dem sich dunkles Tannengrün und helleres Laub abwechselten. Die fernen Hügel verschmolzen mit dem blauen Himmel.
Kein Haus, keine Besiedlung war zu sehen. Man war mit sich und der Landschaft allein.
»Wünschen Sie einen Tisch? Wie viele Personen?«
Eine der grau gekleideten jungen Kellnerinnen hatte mich angesprochen.
»Ich bin mit Frau Siebert verabredet«, sagte ich. »Kennen Sie sie?«
Ich folgte der Bedienung und wurde an einen Tisch gebracht, der etwas abseits stand. Dort saß eine ältere Dame mit sehr schwarz gefärbtem Haar, eine randlose Brille auf der Nase. Sie stocherte in einem Salat und warf hin und wieder einen Blick in eine Zeitung, die neben ihrem Teller lag.
»Der Herr sagt, er sei mit Ihnen verabredet, Frau Siebert«, sagte das Mädchen und ging. Erst jetzt hob die Frau den Blick.
»Herr Rott, nehme ich an. Ich dachte mir, dass Sie das sind. Ich habe Sie schon die ganze Zeit da hinten herumstehen sehen. Setzen Sie sich doch.«
Ich begrüßte sie und nahm den Stuhl gegenüber.
»Ihnen gefällt die Aussicht offenbar«, sagte sie. »Dann sitzen Sie hier genau richtig.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass sie halb zum Tal saß und gegen die Hauswand blickte.
»Ich komme so lange hierher, dass mich der Blick nicht mehr reizen kann. Ich achte nicht darauf, wie ich mich hinsetze.«
Ich fragte mich, warum sie dann überhaupt herkam. Vielleicht, um einfach an der frischen Luft unter Menschen zu sein. Ich sah mich um. Fast die gesamten übrigen Gäste hatten sich, wenn es nur ging, vor das Panorama gesetzt wie vor eine Großbildleinwand.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte die Kellnerin, die zurückgekommen war. Ich entschied mich für einen Kaffee.
»Sie haben es reichlich spannend gemacht, Herr Rott.« Frau Siebert betrachtete mich abschätzig. »Sie wollen mir also wirklich erklären, dass Reinhold diese schreckliche Tat nicht begangen hat?«
Sie legte die Zeitung weg, und ich bemerkte alten, schweren Schmuck an ihren Handgelenken. Er hatte nicht die Farbe von Gold, sondern wirkte wie aus Messing.
»Ich habe den Auftrag übernommen, Hinweise zu sammeln, die Reinhold Hackenberg entlasten. Egal, wie Reinhold Hackenberg zu seiner Mutter stand - es wäre nicht gerecht, sollte er unschuldig eingesperrt worden sein.«
»Das würde ihm nicht das Geringste schaden«, entgegnete Frau Siebert kühl. »Was soll aus ihm denn noch werden? Ich wäre froh, wenn er für immer ins Gefängnis ginge. Den Gedanken, dass er jetzt vielleicht seine Mutter beerbt, finde ich unerträglich. Er wird doch das ganze mühsam ersparte Geld innerhalb von einem Monat durchbringen. Es ist wirklich ein Jammer, welches Pech Klara mit ihm gehabt hat.«
»Erzählen Sie mir doch bitte mehr von ihr. Von ihr und Gabriele.«
»Sehen Sie, das genau ist es, was mir nicht gefällt. Sie suchen nach Hinweisen und wühlen dabei Klaras Privatleben auf. Dabei hat die Sache mit Gabriele nichts mit dem Mord zu tun, glauben Sie mir.«
Sie kniff die Augen zusammen und nahm die Brille ab. Jetzt war
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