Altenberger Requiem
der umliegenden Städte. Im Westen war er noch etwas heller. Zum einen weil die Sonne noch nicht ganz untergegangen war, zum anderen weil dort die großen Ballungszentren lagen. Düsseldorf. Die nördlichen Ausläufer von Köln. Leverkusen. Hinten auf der Hauptstraße zog röhrend ein Motorrad vorbei. Ich schloss die Tür wieder.
Wonne hatte die beiden Teller auf den Tisch gestellt, Besteck, Gläser und Servietten gedeckt und sogar eine Kerze angezündet. In ihren Augen leuchtete der Schein der Flamme.
»Guten Appetit«, sagte sie und tröpfelte etwas von dem schwarzen Rübenkraut auf den Teller. Sie tunkte ein Stück des gelben Kartoffelkuchens ein, veredelte ihn mit dem Sirup, steckte ihn in den Mund, und auf ihren Lippen blieb eine dunkle Spur zurück.
»Du siehst sogar sexy aus, wenn du isst«, sagte ich und öffnete eine neue Flasche.
»Lenk nicht ab. Erzähl lieber.«
Ich aß, trank, und zwischen den Bissen und Bierschlucken berichtete ich.
»Sag mir noch mal, wie dieser Mann heißt, mit dem Gabriele Scherf weggegangen ist«, bat Wonne, als ich geendet hatte.
»Sandro Marino. Ein seltsamer Name … Aber wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass Klara Hackenberg auch über Matzes Immobilienbetrug informiert war. Das ist und bleibt eine weitere Spur. Deshalb … Was ist denn?«
Wonne wirkte plötzlich überrascht. Sogar alarmiert. Sie hatte wieder einen Bissen auf der Gabel drapiert, bereit zum genussvollen Verzehr, aber sie ließ die appetitliche Portion sinken, legte sie auf den Teller und sah mich an, als hätte sie einen Geist gesehen.
»Ich kenne ihn«, sagte sie.
»Du kennst diesen Sandro?«
»Nein, aber den Namen …« Sie schob den Teller weg. Es war, als brauche sie plötzlich Platz zum Reden, zum Gestikulieren. »Ich habe dir doch erzählt, dass ich die Unterlagen von meiner Mutter durchgegangen bin. Die Briefe. Die ganzen Männer, mit denen sie zusammen war … Mein Gott, das darf nicht wahr sein. Weißt du, was das bedeutet?«
»Erklär es mir.«
»Meine Mutter war mit diesem Sandro befreundet. Sie haben sich geschrieben … Ich habe von ihm einen Brief, der an sie gerichtet war.«
Selbst in dem matten Kerzenlicht konnte ich erkennen, dass Wonne blass geworden war. Ich wusste, was ihr durch den Kopf ging. Sie war auf der Suche nach ihrem Vater. Ihre Mutter hatte etwas mit diesem Sandro gehabt - jedenfalls nahm ich das an.
»Hieß deine Mutter zufällig Gabriele?«, fragte ich. »Stammt sie aus Wermelskirchen?«
»Mensch, Remi, auf was für Ideen du kommst… Unsinn. Sie hieß Yvonne wie ich. Manchmal geben Väter ihre Vornamen an ihre Söhne weiter. Meine Mutter hat es mit ihrer Tochter so gehalten. Außerdem hat sie nichts mit Schmuck zu tun … Nein, ich meine etwas ganz anderes.«
»Ich weiß. Dass Sandro Marino dein Vater ist. Aber kann das denn alles sein? Bist du ganz sicher, dass der Name in den Unterlagen deiner Mutter auftaucht? Und nicht irgendein anderer italienischer Name, der so ähnlich klingt?«
»Absolut.« Wonne wurde unruhig. »Wir müssen los.«
»Wohin? In Hackenbergs Haus?«
»Nein, in meine Wohnung. Wir müssen die Sachen durchgehen. Vielleicht finden wir einen Hinweis.«
»Du meinst, du hast dir die Briefe nicht so ganz genau angesehen?«
»Natürlich nicht jeden. Ich war komplett auf Mathisen fixiert… Das passte irgendwie am besten …«
Mein Mund war trocken. Ich griff nach dem Bier und trank einen Schluck. In meinem Kopf überkreuzte sich alles. Suchten wir nun nach Klara Hackenbergs Mörder? Oder nach Wonnes Vater? Es gab keine Verbindung. Es waren zwei parallel verlaufende Geschichten ohne jeden Berührungspunkt, oder nicht? Der Mord, dessen Motiv immer noch im Dunkeln lag. Und Klara Hackenbergs Versuche, ihre Nichte wiederzufinden. Wonnes Vatersuche. Und Klara Hackenbergs Informationen über Matze. Der ein Alibi hatte. Aber was war mit seinen Kumpels? Oder mit Komplizen aus der Immobilienfirma, die es vielleicht gar nicht gab? Oder arbeitete er allein? Wie hieß die Firma noch mal? Markgraf … Aber wenn es doch um Gabriele ging - um ihr Verschwinden … Ich grübelte und grübelte. Und auf einmal stand eine neue Idee vor mir.
»Wenn Marino wirklich etwas mit dem Mord zu tun hat«, sagte ich, »könnten wir Folgendes annehmen: Sandro Marino hat Gabriele Scherf ermordet, kurz nachdem er sie nach Österreich mitgenommen hat - warum auch immer. Klara Hackenberg sucht heute, alt und einsam, nach ihrer Nichte, und findet heraus, was Marino getan
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