Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
schläft in der Nacht. Dies scheint belanglos, oder doch nicht? Wenn man aber bedenkt, dass es in vielen Märchen geradezu lebenswichtig ist, nachts wach zu bleiben, eine Nachtwache nicht zu verschlafen, dann bekommt diese simple Tatsache doch eine Bedeutung. Im indischen Märchen „Der Schlangenprinz“ schneidet sich die Prinzessin mit einem Messer in den Finger und streut Salz in die Wunde, um durch den Schmerz wach gehalten zu werden, nur um nachts nicht einzuschlafen. Und dadurch kommt sie auf die Spur ihres verlorenen Geliebten.
Nachts schlafen kann also auch bedeuten, die Anbindung an die Botschaften des Unbewussten zu verpennen, den Bezug zum Reich der Mütter, zur Nachtwelt des Mondes abzuschneiden. Bei einem König ohne Königin ist das sicherlich nicht verwunderlich.
Nun ist die Rede von der wunderschönen Prinzessin, der Tochter dieses Königs, eine absolute Lichtgestalt, sehr blumig geschildert. Ein erfahrener Märchendeuter wird hier schon misstrauisch. Wird eine Gestalt so ausschließlich licht dargestellt, braucht man nur auf die entsprechend hässliche Hexe zu warten, die ja auch prompt ein paar Seiten später auftaucht.
Dieser Problematik liegt sicherlich zugrunde, dass der männlich-patriarchale Vatergeist die dunkle Seite des Weiblichen immer gefürchtet hat. Deswegen wurden ja Scheiterhaufen errichtet. Das Grosse Weibliche wurde gespalten in Maria und Hexe, oder auch Himmelskönigin und Unterweltgöttin. Maria wurde verehrt, die Hexe verbrannt. Das Weibliche – wie jeder Archetyp – existiert aber nun mal in der Polarität, vollständige Weiblichkeit umfasst beide Pole.
Und will ein Mann eine vollständige Beziehung zum Weiblichen entwickeln, will beides eingeladen werden. Natürlich auch die innere Hexe! Wenn ein Mann eine weibliche Seele (Anima) hat, dann muss er sich auch mit deren dunkler Seite auseinandersetzen. Mein alter Freund Helmut Remmler hat einmal einen Vortrag gehalten mit dem Titel: »Die Hexe im Mann«. Märchen erzählen auf jeweils unterschiedliche Weise, dass man auf dem Weg zur Liebe beiden Gesichtern des Weiblichen begegnen muss. Du bekommst die schöne Prinzessin nicht, ohne der Hexe begegnet zu sein. Und will eine Frau vollständig werden, muss sie Maria und die Hexe in sich kennen und lieben lernen.
Nun hat dieser König seine Tochter einem bösen Zauberer versprochen. Im Patriarchat ist es üblich, dass Könige oder Väter ihre Töchter verheiraten und damit über die Partnerwahl der Tochter bestimmen. Das kann manchmal sehr direkt, manchmal aber auch indirekt geschehen. Oft ist es gar nicht die Empfehlung oder der Befehl des Vaters, der eine Tochter zu einem bestimmten Typus von Mann führt, sondern einfach die Haltung der Tochter, die sich mit den Werten des Vaters (häufig unbewusst) identifiziert und eine Partnerwahl trifft, die im Grunde gar nicht ihre eigene ist, bei der sozusagen der Vater aus dem Hintergrund die Strippen zieht.
Das kann einmal passieren, indem die Tochter einen Mann wählt, der dem Vater sehr ähnlich ist Aber auch, wenn sie die Antithese wählt– also einen Mann, der ganz anders ist – bleibt die Tochter oft auf den Vater bezogen, wenngleich in der Protesthaltung.
In der Arbeit mit diesem Märchen erlebt fast jeder diese Prinzessin zwar irgendwie als schön, aber auch als gesichtslos, als eine Art Barbiepuppe, um es böse auszudrücken. Von Autonomie, eigenem Willen ist bei ihr herzlich wenig zu spüren. Sie ist, wie erwähnt, die Vater-Tochter, es existiert keine starke Mütterlichkeit, an der sich diese Prinzessin orientieren könnte, wie auch im Märchen „Blaubart“.
Die Frau, die ins Reich dieses dunklen Königs gerät, wächst in einer Familie mit Vater und drei Brüdern auf, ohne Mutter. Als König Blaubart um ihre Hand anhält, sagt der Vater gleich zu, begeistert von der »guten Partie«. Der Tochter aber ist der Gemahl in spe von vornherein unheimlich wegen seines blauen Bartes. Mutterlos wie sie ist, akzeptiert sie den väterlichen Willen, lässt sich verheiraten, und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
Der Anfang der Liebesbeziehung zwischen Prinz und Prinzessin wird in wunderschönen Bildern gezeichnet. Der Prinz, voller Sehnsucht, wandelt auf Aphrodites Spuren, denn sowohl die tanzenden Blumenmädchen als auch die Blüte und die Taube kommen aus dem Symbolkreis der Göttin. Zunächst hört er auch auf die Botschaft der Taube, seines »hilfreichen Tieres«, dann allerdings erliegt er
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