Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
ihn denn so wütend? Diese Greise erzählen ihm von der Schattenseite des Weiblichen. Dabei wäre es doch so gut gewesen, gerade dem ältesten und hässlichsten Greis zuzuhören. Er hat eine sehr tragische Wahrheit ausgesprochen: Die alte, hässliche Hexe wurde erschlagen und in den Abgrund des Unbewussten geworfen, und das seit Jahrtausenden, kollektiv wie individuell. Wir brauchen viel Mut, auf den hässlichen, alten Greis in uns selbst zu hören und Botschaften des Unbewussten zu akzeptieren, die unserem Verstand unangenehm sind.
Aber wenn wir, wie dieser Prinz, gleich mit dem Dolch des Verstandes kommen, dann wird es uns vermutlich so gehen wie ihm. Wir werden letztendlich versteinern, einsam werden. Wenn wir uns mit dem Weiblichen versöhnen wollen, wenn wir auf der erotischen Spur bleiben wollen, müssen wir Dewi Ngalima und die hässliche Hexe gleichermaßen akzeptieren. Das eine geht nicht ohne das andere, das erzählen Märchen aller Kulturen. Die Perle liegt immer neben dem Drachen!
Es ist eine Tragödie, dass in den Grimmschen Märchen, die uns hier ja so geläufig sind, keine gute Hexe auftaucht, während etwa im russischen Märchen die alte Baba Yaga – zugleich Urmutter und Urhexe – eine »gutböse« Gestalt ist. Sie kann heilen, sie kann alte, weise Frau und Ratgeberin sein, einweihen in Geheimnisse, und sie kann – vor allem, wenn sie respektlos behandelt wird – eine destruktive, verschlingende Rachegöttin sein. Beides gehört zum Hexenarchetyp.
Die Botschaft der Geschichte ist also: Wenn du nicht bereit bist, die Hexe zu küssen, dann versteinerst du. Die Hexe küssen heißt auch, dunkle Gefühle ins Leben einzuladen. Kein Mensch – auch wenn uns das als unhaltbares Ideal immer wieder vorgaukelt – kann nur licht sein, immer freundlich, nett, edel, hilfsbereit und gut. Je mehr wir das versuchen, desto hässlicher wird im Unbewussten die Hexe und desto unlebendiger fühlen wir uns. Die ungeliebte Hexe rächt sich: Sie macht uns depressiv. Es kostet Körper und Seele viel Kraft, die Kellertür zuzuhalten, Hexengefühle zu unterdrücken. Und was wir niederdrücken, macht uns depressiv: Was du nicht lebst, lässt dich nicht leben!
Aus diesem Grund gibt es so viele Therapieformen, die Schattenarbeit als unerlässlich bezeichnen. Das niedere Selbst – so wie John Pierrakos, der alte und weise griechische Therapeut es bezeichnet – die Gefühle Hass, Gier, Neid, Eifersucht gibt es in jedem von uns. Wenn wir sie verleugnen, finden wir nicht zu Lebendigkeit und Liebe. Wenn wir uns diesen Energien stellen, kann die Hexe unsere Freundin werden.
Das ist ein mühsamer Weg, der viel Mut erfordert und unser Ego in der Regel kränkt, und doch – das erzählen die Märchen – ist es unerlässlich. Den Umgang mit diesen dunklen Seiten unseres eigenen Wesens zu üben ist sicherlich nicht leicht, aber es ist besser als diesen Aspekt unseres Wesens zu »verteufeln« und abzuspalten.
Im Märchen muss manchmal ein Held dem Teufel mehrere Jahre lang die Hölle putzen, um dann zur Belohnung den Goldklumpen zu erhalten, ein wunderbares Bild für Schattenarbeit. C.G. Jung hat einmal gesagt: »Der Schatten verwickelt dich ins Leben.« Der spirituelle Lehrer Osho sagt: »Der Teufel ist nicht getrennt von Gott, sondern unterwegs zu Gott!«
Vom Problem der Abspaltung erzählt auch die Geschichte von Dornröschen. Die 13. Fee, die nicht zum großen Festessen eingeladen wird, weil nur zwölf Gedecke vorhanden sind, wird böse, wird zur Giftmischerin. Aus kollektiver Sicht erzählt dieses Märchen vom Ausschluss des Weiblichen in der patriarchalen Welt: Wir haben zwölf Sonnenmonate im Jahr und dreizehn Mondumläufe.
Da Sonne und Mond in fast allen Kulturen – auch in der Astrologie – als Repräsentanten des Männlichen und Weiblichen verstanden wurden, als König und Königin, Mann und Frau, stellt diese Geschichte die Problematik der einseitig patriarchalen Welt geradezu genial dar. Individuell gesehen ist die 13. Fee der Wesensanteil, den wir – aus welchem Grund auch immer – nicht ins Leben einladen. Wie heißt deine 13. Fee? Aggression, Sexualität, Leichtigkeit, Tanz, Lachen, Weinen?
Auch in diesem Märchen siegt Kronos, das alte System. Am Anfang der einsame König auf dem steinernen Thron, zum Schluss der versteinerte Prinz. Weder dem Prinzen, noch der Prinzessin gelingt der Weg zur Ganzheit, gelingt die Integration des Schattens. Am Ende ist eine Situation
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