Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
der Herrscher nach seinen Freunden. Seine Stimme ähnelte bereits dem Brüllen des Tigers, und sein Körper bedeckte sich nach und nach mit einem abscheulichen Fell. Da begann der hohe Fürst, vor Schrecken zu weinen.
In jener schicksalsschweren Nacht aber wurde seiner Frau ein Sohn geboren. Als ihm die Mutter zu trinken gab, hörte sie aus dem Dschungel die Stimme eines Tigers. Es klang wie ein Klagegesang, und so ging die Frau vor die Schwelle und lauschte.
»Habt ihr es auch gehört?«, fragte sie die Dorfbewohner, die vorbeikamen, »der Tiger weint.« Doch die Leute im Dorf lachten sie heimlich aus oder hielten sie, so kurz nach der Entbindung, für fieberkrank. Wer hatte auch je gehört, dass ein Tiger weinen konnte? Der Radscha aber kehrte nie zurück. Es vergingen Tage, Wochen, Monate und Jahre. Schon viele Male hatten die Bauern Maniok und Betel geerntet. Der kleine Junge wuchs heran und spielte mit den anderen Kindern des Dorfes. Doch hinter seinem Rücken flüsterten sich die Leute zu, er habe keinen Vater. Das machte den Jungen sehr traurig.
»Mutter, wo ist mein Vater geblieben?«, fragte er eines Tages, »alle lachen mich aus.«
Die Mutter führte ihn an den Rand des Dschungels und erzählte ihm die Geschichte von dem Jäger, der sich vorgenommen hatte, den größten Tiger der Welt zu erlegen. »Er wird nie mehr von der Jagd zurückkehren, der Dschungel lässt ihn nicht mehr los«, sagte sie traurig. »Hörst du, mein Sohn, das Weinen des Tigers? Es klingt wie die Stimme deines Vaters.«
Der Sohn lauschte ein Weilchen, dann erwiderte er: »Mein Herz sagt mir, dass mein Vater lebt. Die Klage des Tigers lockt mich auf den Pfad der Jagd. Mutter, der Dschungel ruft auch mich!«
»Ich fürchte, dein Vater weilt nicht mehr unter den Menschen, mein Sohn! Mir scheint, das Tigerweinen ähnelt dem Wimmern der Dämonen in mondlosen Nächten. Doch darf ich dich nicht von deinem Vorhaben abhalten. Die Stimme des Blutes ist stärker als die Liebe einer Mutter. Folge dem Pfad deines Vaters, mein Sohn.«
Und sie gab ihrem Jungen einen kostbaren Kris mit auf den Weg, den einst ein Waffenschmied geschaffen hatte, der über Zauberkräfte verfügte. Dieser Kris war in der Familie von Geschlecht zu Geschlecht vererbt worden.
»Wenn du im Dschungel deinen Vater treffen solltest, so gib ihm seine liebste Waffe zurück! Aber reiche sie ihm mit der Klinge gegen sein Herz gerichtet, sonst wird dich ein Unglück treffen. Dies sagt mir eine innere Stimme«, ermahnte sie ihn.
Der Sohn ging in den Dschungel. Er folgte dem Klang des Tigerweinens, und er betrat verschlungene Pfade, welche die Jäger sonst mieden. Im dunkelsten Gebüsch traf er auf ein sonderbares Geschöpf, das mit Lianen an den Stamm eines hohen Baumes gefesselt war. Es war weder Mensch noch Tier. Seinen Körper bedeckte ein widerlich gelbes Fell, seine Hände waren zu Raubtierkrallen verformt, und aus seiner Kehle kam das jämmerliche Weinen eines Tigers. Nur sein Antlitz trug menschliche Züge. Der Junge fasste Mut und sprach das unbekannte Wesen an: »Wer bist du, unglücklicher Mann?«
»Ich bin jener, der den Dschungel lästerte«, antwortete das Ungetüm und erzählte seine Geschichte, die Geschichte des unglücklichen Jägers.
»Dann bist du mein Vater«, rief der Sohn freudig aus und wollte ihm mit dem Zauberkris die Lianenfesseln durchschneiden. Doch der Mann bat ihn einzuhalten und gebot ihm, erst ins Dorf zurückzukehren und dort vor seiner Hütte eine Zwergpalme zu pflanzen.
Der Junge gehorchte. Als er am nächsten Morgen in den Dschungel zurückkehrte, bat ihn der Vater: »Gib mir meinen Kris zurück! Aber wenn dir dein Leben lieb ist, so denke an den Rat deiner Mutter.«
Der Sohn zerschnitt mit einem kräftigen Hieb die Fesseln des Vaters. Dann legte er ihm den Kris mit der Klinge gegen des Vaters Herz gerichtet in die Hand. Da drang die Spitze der Zauberwaffe in das Herz des Ungeheuers, und sofort verwandelte es sich in einen Dämon. Mit befreitem Lachen flog er in die Spitze eines gespaltenen Baumes, den die Leute als Geisterfalle bezeichneten.
»Du hast gut getan, auf meinen und den Rat deiner Mutter zu hören«, rief er. »Wenn du mir den Kris so gereicht hättest, wie die Menschen ihn einander geben, würde die Klinge dein eigenes Herz durchbohrt haben. Möge dich nun die Zwergpalme, die du vor deiner Hütte gepflanzt hast, bis zu deinem Tod vor meiner dunklen Macht schützen.
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