Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
wirklich ein selbstbewusster, souveräner Mann, bräuchte er nicht so viel Maskerade, Kunststücke und Tricks. So wäre es eine wirkliche Heldentat von ihm gewesen, nicht auf die Leute, die öffentliche Meinung zu hören, sondern mit der Unschuld des Herzens der Schönen zu begegnen. Dazu gehört allerdings ungeheurer Mut. Selbst in einer alten Beziehung ist es für viele Menschen schwer, sich »nackt«, ohne Maske zu zeigen. Taile geht dieses Risiko nicht ein, der mächtige Zauberer scheint die Konsequenzen zu fürchten.
Die Angst, verlassen oder abgewiesen zu werden, berührt in uns den Ohnmachtspeicher der frühen Kindheit. In der Urbeziehung zur Mutter konnten wir nicht alleine. Die Liebe der Mutter zu verlieren, war gleichbedeutend mit einem Todesurteil, und diese existenzielle Angst vor Verlassen- und Abgewiesenwerden tragen wir meist unbewusst auch in spätere Liebesbeziehungen hinein.
Wenn wir als Kind die Erfahrung gemacht haben, unwillkommen, abgelehnt oder unerwünscht zu sein, wird es natürlich auch später im Leben subjektiv ein großes Risiko sein, ohne Maske am Königshof zu erscheinen. Ungeliebte Kinder sind deshalb oft Stammgäste in Wellnessfarmen.
Wie es anders gehen kann, zeigt die schon erwähnte Geschichte von Dermot und seinen Gefährten („Dermot mit dem Liebesfleck“). Alle vier übernachten im selben Raum mit einer wunderschönen jungen Frau, und alle vier begehren sie. Der erste geht zu ihrem Bett und sagt nur: »Ich will, dass du mein wirst!« und wird abgewiesen. Der zweite sagt überhaupt nichts, tritt vermutlich mit sehnsuchtsvollen Augen an ihr Bett, auch er wird abgewiesen. Der dritte geht zu ihrem Bett und stimmt eine Lobeshymne auf ihre Schönheit an, auch er hat keine Chance.
Dann erhebt sich Dermot und geht mit dem Gedanken zu ihrem Bett: »Wenn sie einen von uns gemeint hat, kann nur ich es sein. Vielleicht meint sie mich?« Und er bekommt von ihr den Kuss, dieses erotische Mal, dass ihn anschließt an die Energie der Liebe und des Herzens.
Diese Bereitschaft, sich bedingungslos dem Abenteuer Liebe auszusetzen, hat Taile nicht. Er ist ein Mann der Macht, nicht des Vertrauens. Nun ist prinzipiell die Welt der Zauberer und Hexen eine Welt der Macht. Tailes Macht ist allerdings allein schwarze Magie. Er setzt seine Zauberkunst ein, um selbst zu profitieren, eigennützig und manipulativ.
Diese Macht schafft Abhängigkeit und ist keine Basis für eine Liebesbeziehung. Diese Macht lässt keine Gleichwertigkeit und Freiheit zu. Diese Macht ist gepaart mit dem Misstrauen, das sagt: »Wenn ich meinen Griff lockere, wenn ich den anderen loslasse, verliere ich ihn für immer. Wenn ich mich selbst fallen lasse, Kontrolle verliere, dann tut sich ein schwarzes Loch auf, niemand fängt mich auf.«
Wenn ich dieses Urmisstrauen in mir trage, werde ich entweder – wie Taile am Anfang – gleich alleine bleiben, denn dann kann mich niemand verlassen oder fallen lassen, oder ich werde versuchen, den anderen zu vereinnahmen, zu kontrollieren. Dann werde ich – symbolisch gesehen – zum »Menschenfresser«. Der entwicklungsgeschichtliche Hintergrund ist in der Regel eine tiefe Verletzung des inneren Kindes.
Die Anfangsbeziehung am Königshof in Pankatra scheint noch ohne Probleme zu sein, das »Arrangement« scheint zu stimmen. Die Schöne hat keine Ahnung, mit wem sie da eigentlich zusammen ist. Der König ohne Königin kapiert sowieso nichts oder ist nicht interessiert.
Aber die Lüge lässt sich nicht aufrechterhalten. Auf dem Heimweg ins Reich von Taile, das heißt, je mehr sie sich ihm annähert, merkt die Schöne, mit wem sie es wirklich zu tun hat. Dass sie das nicht früher gespürt hat, hat mit ihrer Mutterlosigkeit zu tun. Der weibliche Instinkt, der sich nicht von der Persona täuschen lässt, fehlt ganz einfach.
Im Reich dieses Vater-Königs ist Persona, ist Maske anscheinend die Regel. Frauen, die in einer entsprechenden Familie aufwachsen, die derart auf Äußerlichkeiten und nicht auf die innere Welt bezogen ist, werden häufig das Opfer eines Taile. Dann werden sie zur Ware, werden wie ein Ding in das Boot des Zauberers gelegt und abtransportiert, landen im Beziehungsgefängnis.
Jetzt allerdings gelangt die Geschichte an den Umkehrpunkt. Die rettende Energie tritt in Gestalt der Schwester des Zauberers auf den Plan. Allein die Tatsache, dass sie die Schwester eines Zauberers ist, lässt vermuten, dass sie selbst etwas von
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