Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
erzählen, dass ihre Heldenmänner niemals da waren in der Zeit der Schwangerschaft und Geburt des gemeinsamen Kindes, da sie »Wichtigeres« zu tun hatten: eben den großen Tiger, dass heißt, nach Anerkennung und Erfolg in der äußeren Welt zu jagen. Subjektstufig gesehen handelt es sich bei dem Fürsten um jemanden, der nicht bemerkt, dass in seinem Inneren etwas neu geboren wird, dass er sozusagen selbst »schwanger geht« mit einem neuen Entwicklungsimpuls.
Nun kommt es zu einem Wendepunkt, zur »notwendigen« Krise: Die einseitige, auf die Spitze getriebene Männlichkeit des Fürsten fordert den Gegenpol heraus. Die Lianen des Dschungels schlingen sich um seine Füße, er wird sozusagen an Mutter Erde gefesselt. Lianen erinnern an Schlangen. Die Schlange taucht im Märchen meist in entscheidenden Wandlungssituationen auf – ist sie doch selbst durch ihre Häutung ein Symbol für den Wandlungscharakter des Lebens!
Taucht die Schlange auf, steht eine Stirb- und Werde-Erfahrung an. Und: die Schlange gehört zum Symbolkreis der dunklen Mutter. Das Grosse Mütterliche hat zwei Seiten. Den hellen, nährenden und Leben spendenden sowie den dunklen, verschlingenden und tödlichen Aspekt. Die Nacht etwa ist morgens die Leben spendende Mutter, weil sie aus ihrem Bauch das Tageslicht entlässt, abends ist sie die schreckliche Mutter, die das Tageslicht wieder verschlingt. An dieser Macht scheitert der jagdbesessene Fürst.
Die Geschichte erinnert an Orion aus der griechischen Mythologie. Auch Orion war ein großer Jäger, er war so vermessen, dass er glaubte, alles Wild der Erde erlegen zu können. Auch er war ein Besessener, wollte unbesiegbar, unwiderstehlich sein, auch bei Frauen. Er begegnete auf seiner Wanderschaft der Göttin Artemis und – ganz Jäger wie er war, vergewaltigte er die Göttin. Auch er forderte das Schicksal heraus, und wie dieser Fürst wurde er in einen schmerzhaften Wandlungsprozess gezwungen.
Die empörte Göttin sandte ihm einen Skorpion, der Orion stach und tötete. Erst in der Erfahrung des Sterbens lernte dieser die so lange vermiedene, ganz andere Seite seines Wesens kennen: Ehrfurcht, Hingabe, Staunen. Zeus honorierte Orions Wandlungsprozess und versetzte ihn als Sternbild an den Himmel. So erzählt der Mythos.
Unterwegs zu sein wie Orion oder der Fürst in unserer Geschichte ist ein Privileg der ersten Lebenshälfte. Alles auf eine Karte zu setzen, den höchsten Berg der Erde besteigen zu wollen, mit einer Art »Himalaja-Syndrom« zu leben. Aus solch einem Holz sind Menschen geschnitzt, die Großes bewegen, die ein großes Rad drehen, die Geschichte schreiben.
Nur erzählen Märchen und Mythen auf jeweils unterschiedliche Weise, dass diese Mentalität in der zweiten Lebenshälfte nicht mehr angemessen ist. »In der Lebensmitte wird der Tod geboren«, sagt C.G. Jung, und wenn wir nicht sehr gut im Verdrängen sind, werden wir spätestens jetzt bemerken, dass die Kräfte nicht mehr zunehmen und wir in einem sterblichen Körper wohnen. Gerade Menschen, die das Schicksal, die Götter so herausfordern wie dieser Fürst oder wie Orion, bewegen sich zielsicher auf eine Wandlungserfahrung zu, meist ganz unbewusst.
Nun offenbart sich der Sinn dieser Grenzerfahrung: Im Moment der tiefsten Verzweiflung, in der die Haltung des großen Jägers stirbt, wird der kleine Sohn, der neue Entwicklungsimpuls geboren. So oder ähnlich geschieht dies in vielen Märchen.
Wenn der Held sich im dunklen Wald, im Dschungel des Unbewussten verirrt hat, kommt die Wende erst im Moment der absoluten Verzweiflung und Dunkelheit. Dann erscheint in der Regel eine Gestalt aus dem Symbolkreis des höheren Selbst, der göttlichen Führung, sei es eine gute Fee, ein alter Weiser oder ein hilfreiches Tier. Niemand fällt so tief, dass er nicht in Gottes Hand fällt!
Wenn wir mit der einseitigen Siegermentalität dieses Fürsten leben, gibt es in der Regel um die Lebensmitte herum ein derartiges »LianenErlebnis«. Das kann etwa eine Krankheit sein, eine Beziehungskrise oder eine Ohnmachterfahrung im Beruf. Wenn wir diese Krise zulassen, »verzweiflungsbereit« sind, kann das neue Entwicklungskind in uns geboren werden!
Der Fürst bekommt es in dieser entscheidenden Situation mit der Angst zu tun, er lernt das Fürchten und beginnt zu weinen. Welch ein Kontrast zu dem anfänglichen Supermann! Die Polarität Großer Krieger – Jammerndes Häufchen Elend existiert in vielen
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