Altern Wie Ein Gentleman
keine erfolgreiche Berufskarriere im Rahmen seiner Möglichkeiten vorweisen kann, hat den Sinn seines vom Schöpfer geschenkten Lebens verfehlt. Der Herrgott seinerseits hat sich in der Zwischenzeit zurückgezogen. Auf Dauer hätte er mit seinem Tugendkatalog die Rationalität moderner Produktionsabläufe und deren Zumutungen gegenüber den Menschen gestört. Der Rest ist geblieben. Die enge Anbindung unseres Lebens an die Arbeit ist ein vorherrschender Bestandteil unserer Kultur und wird durch Elternhaus, Schule und Berufsausbildung stets aufs Neue tief in unsere Herzen und unser Bewusstsein gepflanzt, so dass wir schließlich überzeugt sind, ohne Beruf wertlos zu sein.
Das war nicht immer so. Im Gegenteil, zu Beginn unserer Zivilisation stand die Muße, eine enge Vertraute von Müßiggang und Zeitverschwendung, ganz oben auf der Tagesordnung. Die Griechen, die als Erste in Europa nachhaltig über die Bestimmung des Menschen nachdachten, kamen zu dem Ergebnis, dieser sei zur Muße geboren, als Voraussetzung, um sich den Musen hinzugeben. Die Arbeit hingegen war Fluch, dem man zu entrinnen suchte. Der soziale Status bemaß sich vor allem an der Distanz zu körperlicher Fron. Sokrates galt die Muße als Schwester der Freiheit. Ein erfülltes Leben bestand für ihn in ruhiger Kontemplation als Grundlage für die Entwicklung geistiger und schöpferischer Kräfte. Aristoteles befand: »Arbeit und Tugend schließen einander aus.« Wenn die Sorge um das tägliche Brot im Vordergrund des menschlichen Daseins stand, konnten Klugheit, Moral und Vernunft sich schwerlich entwickeln.
In der Folgezeit finden sich in der europäischen Geschichte zwar nur wenige konkrete Beispiele für den mutmaßlichen Zusammenhang von Muse und Weisheit, aber die Idee entwickelte über die Jahrtausende ein prächtiges Eigenleben, denn sie diente den gehobenen Ständen als Begründung für eine fidele Existenz meist weitab aller Weisheit.
Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kamen zur selben Zeit die Denker im abgelegenen, noch unentdeckten China. Im Zentrum der Lehren des Taoismus steht die Philosophie des Nichtstuns, dargestellt im Bild vom Fluss des Lebens, auf dem sich der Einzelne, seinem Schicksal folgend, sanft, frei und erwartungsvoll flussabwärts treiben lässt.
Nun war aber auch den alten Griechen nicht verborgen geblieben, dass ohne Landwirtschaft und Handwerk ein Leben in reiner Muße recht kärglich sein würde. Bei aller Bewunderung für Diogenes wurde dessen asketischer Lebensstil nie Vorbild seiner Zeitgenossen, weshalb Frauen, Sklaven und schollengebundene Bauern das mühselige Tagewerk übernehmen mussten.
Bei den Römern hatten Landwirtschaft und das ertragreiche Verwalten großer Güter zwar einen besseren Ruf als bei ihren griechischen Vorbildern – schließlich wollte ein ganzes Weltreich ernährt werden –, trotzdem genoss der Müßiggang neben der Kriegskunst weiterhin höchstes Ansehen. In gewissem Sinn ist er die Kehrseite des Krieges, denn wer nicht arbeitet, wird dem Nachbarn die Früchte seiner Felder rauben müssen.
Gottes Sohn hielt, eingedenk der paradiesischen Zustände in seiner Heimat, ebenfalls wenig von geregelter Arbeit: »Sehet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht, und doch sage ich euch, dass Salomon in all seiner Pracht nicht herrlicher gekleidet war« (Matth. 6, 28-29). Diesem Schlendrian bereitete Paulus, dem daran gelegen war, eine realitätstaugliche Kirche einzurichten, bald ein Ende. Im zweiten Brief an die Thessalonicher heißt es bereits drohend: »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.« Die Benediktiner schließlich brachten den Sinn christlicher Existenz auf die knappe Formel: »Bete und arbeite.«
Doch selbst noch im 18. Jahrhundert hielt sich der französische Adel, dessen Lebensstil dem Kontinent Vorbild war, lieber an die Vorgaben der Antike. Die einzige Möglichkeit, den Adelstitel zu verlieren, bestand darin, bei der verpönten Lohnarbeit ertappt zu werden – ein Risiko, das allenfalls eine Rosenschere in adligen Händen zuließ.
Zur selben Zeit erhob jedoch ein bislang unbekannter Chor seine gewichtige Stimme und bemächtigte sich des Themas, denn die Industrialisierung verlangte gebieterisch nach einer neuen Arbeitsmoral. Immanuel Kant stellte in seiner Liste der drei Laster neben Feigheit und Falschheit die Faulheit an erste Stelle. Sein Zeitgenosse David Hume vertrat die kühne sozialpsychologische These: »Beinahe alle
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