Altern Wie Ein Gentleman
gesetzlichen Renteneintrittsalter und unter allgemeiner Zustimmung von der Arbeit verabschiedet haben. Sie sind der Jugend kein Ärgernis wie bei uns, sondern Vor-
bild für die eigene Lebensplanung. Ab dem späten Vormittag finden wir sie auf den Marktplätzen und in den Cafés mit tiefsinnigen Gesprächen beschäftigt. Unterbrochen wird die Redseligkeit während der heißen Mittagsstunden durch ein Nickerchen – übrigens eine ehrwürdige Einrichtung, die nördlich der Alpen ebenfalls der neuen Arbeitsmoral und einer unbarmherzigen Anti-Nickerchen-Politik zum Opfer gefallen war, denn Maschinen brauchen keine Mittagsruhe. Nach der schattenlosen Mittagshitze geht es auf den Marktplätzen des Südens wortreich weiter, bis Hunger oder Dunkelheit oder beides die Gesprächsteilnehmer nach Hause treiben, wo sie von ihren Frauen und einer warmen Mahlzeit als Lohn für ihr anstrengendes Tage-
werk erwartet werden.
Bis zum letzten Arbeitstag hatte die protestantische Ethik, die so sorgfältig und aufwendig in unser aller Hirne und Herzen implantiert worden ist, auch mir persönlich gute Dienste erwiesen. Sie war, ohne dass ich mir dessen bewusst gewesen wäre, Voraussetzung für meine berufliche Karriere und sorgte dafür, dass ich jeden Morgen guter Dinge zur Arbeit ging. Sie hat über Jahrzehnte jene Zweifel bekämpft und unterdrückt, die ich – wie jeder von uns – bisweilen am Sinn der Arbeit hatte. Flankiert und unterstützt wurde sie von den Accessoires erfolgreicher Berufsausübung: Ansehen, Einkommen und Wichtigkeit.
Mit dem letzten Arbeitstag jedoch wurde sie zum Psychoschrott, den es umgehend zu entsorgen galt, wenn ich friedlich alt werden wollte. Denn von diesem Augenblick an wirkte sie in meiner Seele wie ein entzündeter Blinddarm im Leib. Gegen Ende unserer beruflichen Laufbahn werden wir von Nutznießern der protestantischen Ethik zu deren Opfer. Damit war für mich der Zeitpunkt gekommen, einer Aufforderung von Georg Büchner zu folgen: »Unser Leben ist der Mord durch Arbeit, wir hängen sechzig Jahre lang am Strick und zappeln, aber wir werden uns losschneiden.«
Freilich – die protestantische Arbeitsmoral ist zäh und facettenreich. Wir können sie nur Stück für Stück und Schritt für Schritt forträumen, denn sie und alle Einzelteile, die mit ihr zusammenhängen, gehörten bislang untrennbar zu unserer Identität. Ihr Verlust ist deshalb schmerzhaft. Wir müssen uns zum Teil selbst abschaffen und neu erfinden, was uns nach einem langen, gleichförmigen Marsch durch das Berufsleben vor unerhörte Herausforderungen stellt. Bis die letzten Reste der Arbeitsmoral getilgt sind, können Jahre vergehen. Manche Spuren werden sich nie beseitigen lassen, denn was die tief empfundene Frömmigkeit dem Mittelalter war, ist die protestantische Ethik der Moderne: das wirkungsvollste psychische Konstrukt in jedem Einzelnen von uns.
Wer in Rente geht, zieht guten Rat an wie Honig die Bären. Lange vor dem letzten Arbeitstag wollten die wohlgesinnten unter meinen Bekannten, und das waren sie alle, in besorgtem Tonfall wissen, ob ich meine alten Tage rechtzeitig und sorgfältig vorbereitet hätte. »Der Keller ist bald aufgeräumt, der Dachboden schnell entrümpelt und das letzte Unkraut irgendwann gejätet. Dann stehst du vor dem Nichts, und damit ist nicht zu spaßen.«
Deshalb müssen frühzeitig Maßnahmen ergriffen werden, dem Nichts keine Chance zu lassen. Von großer Bedeutung ist dabei ohne Zweifel eine sinnvolle Beschäftigung, am besten von ähnlicher Qualität wie der einstige Beruf. Die Tage wollen in Zukunft sorgfältig geplant sein, denn das fehlende Korsett des Berufs kann zur Verwahrlosung führen, wie bei jenen Rentnern, die gegen elf Uhr in Trainingsanzügen, unrasiert, mit ungepflegten Haaren und rotem Kopf beim Discounter auftauchen. Was haben wir eigentlich gegen die? Gibt es eine Kleiderordnung für Discounter? Ist eine fröhliche Miene nicht allemal besser als gekämmtes Haar? Beginnt die neue Freiheit mit einer langen Liste von Vorschriften für den seriösen Rentnerauftritt? Dürfen wir endlich die Seriosität mit ihren Geschwistern Biedersinn und Schicklichkeit, die schlimmsten aller protestantischen Kampfbegriffe, zum Teufel jagen?
Frühes Aufstehen und präzise Tagespläne waren nach Auffassung meiner zahlreichen Berater weitere Maßnahmen gegen das drohende Nichts, von dessen Existenz ich bislang kaum Notiz genommen hatte. An die Stelle von Studioterminen, Pressekonferenzen,
Weitere Kostenlose Bücher