Altern Wie Ein Gentleman
Redaktionssitzungen, Recherchen und der täglichen Lektüre einer Handvoll Zeitungen und Zeitschriften sollte eine reichhaltige Palette an Museumsbesuchen, Theaterabenden, Ehrenämtern und akribisch geplanten Fernreisen treten. Alle Vorschläge liefen am Ende darauf hinaus, der protestantischen Ethik in meinem Inneren weiterhin zu ihrem Recht zu verhelfen.
Verunsichert nahm ich deshalb dankbar eine Stelle im Medienbereich an, die mir kurz nach Rentenantritt angeboten wurde. Es war eine der dümmsten Entscheidungen meines Lebens, und das ist nicht eben arm an solchen. Plötzlich saß ich wie ehedem den Tag lang an einem Schreibtisch, ließ endlose Konferenzen über mich ergehen und mischte mich in die üblichen redaktionsinternen Streitereien ein, während draußen ein ungewöhnlich schöner Sommer an mir vorbeizog.
Nach sechs Wochen hatte ich genug und traf eine der klügsten Entscheidungen meines Lebens, und die sind schon seltener. Ich bedankte mich kurz, verabschiedete mich knapp und machte mich auf den Weg zum nächsten Golfplatz. Seither geht es mir blendend. Den vorgeplanten Krempel habe ich zum großen Teil entsorgt und lasse mich in der Zwischenzeit häufig auf Ereignisse ein, die spontan und unerwartet auf mich zukommen. Ich lasse mich treiben und weiß oft heute nicht, was morgen sein wird. Ich versuche mich neuerdings am Augenblick, nachdem ich über lange Jahre vorwiegend in der Zukunft gelebt hatte, die, außer in Tagträumen, ein unwirtlicher Ort sein kann.
Selbstredend werde ich weiterhin von Überbleibseln aus der Vergangenheit belästigt und beherrscht. Ich plane neuerdings Urlaubsreisen präzise bis ins letzte Detail. Das klappt nie, führt ständig zu Verdruss und ist für meine Umwelt ein realer Verlust an Lebensqualität, also eine Schrulle, der ich keine lange Zukunft mehr geben sollte. Ich arbeite an mir.
In Ermangelung wichtiger, beruflicher Telefongespräche rufe ich außerdem, stets bereit zu ausführlichen Gesprächen, kreuz und quer durch die Republik jeden an, den ich erreiche. Das strapaziert sowohl das Zeitbudget beider Seiten wie auch die Höflichkeit am anderen Ende der Leitung – eine weitere Baustelle, an der es noch zu arbeiten gilt.
Ich bin jedoch nicht der Einzige, der auf neuen Gebieten Beschäftigung sucht. Ein Bekannter von mir, das vertraute mir jüngst dessen Frau an, hat begonnen, Fläschchen zu sammeln. Früher wurden die gläsernen Behältnisse für Kapern, Senf, Oliven und Gurken in der Weißglastonne entsorgt. »Heute reinigt er sie sorgfältig und stellt sie zu den vielen anderen, die er bereits besitzt. Vor Kurzem hat er frühmorgens in einem Hotel sogar die kleinen Marmeladengläschen eingesteckt. Sie sind jetzt, geleert und gereinigt, Teil seiner Sammlung. Was bedeutet das?« Ich weiß es auch nicht. Offensichtlich eine Übersprunghandlung als Ersatz für erlittenen Verlust im Kampf gegen die alte Arbeitsmoral, die erbittert ihr Terrain verteidigt.
Später erzählte ich einem ehemaligen Kommilitonen, der Ordinarius für deutsche Literatur geworden war, von meinen Erfahrungen. Im Gegensatz zu mir hatte er versucht, in den letzten Jahren seiner Lehrtätigkeit das zukünftige Rentnerdasein bis in alle Einzelheiten in den Griff zu bekommen: »Nach einiger Zeit habe ich diese Bemühungen jedoch aufgegeben. Zum einen kann man sich nicht vorstellen, wie man nach dem letzten Arbeitstag denkt, fühlt und was für ein Mensch man unversehens geworden ist. Zum anderen macht diese Planungsarbeit die Gegenwart sehr unbehaglich, und die wird täglich kostbarer. Ich bin also unvorbereitet in Rente gegangen, und es ist mir gut bekommen. Gelegentliche Durchhänger müssen überwunden werden. Dazu sind sie da. Sie gehören zum Leben – vor und nach der Rente.«
Um zu verhindern, dass die protestantische Ethik heimlich und getarnt in uns überlebt, müssen wir deren Natur und Arbeitsweise verstehen lernen. Erst danach kann die Reform am Ich erfolgreich in Angriff genommen, und neue Lebensformen wie etwa die Langsamkeit können erschlossen werden.
Einst war diese ein vertrauter Teil des öffentlichen Lebens gewesen. Kulturhistoriker berichten, Mitte des 19. Jahrhunderts hätte man im Bois de Boulogne Schildkröten spazieren geführt. Wenig später machten die große Hast und die Geschwindigkeit der Maschinen dieser Gemächlichkeit gehörig Beine und verjagten sie fast gänzlich aus unserem Leben. Im Alter entdecken wir sie nun wieder. Der Körper wird ohnehin mehr Ruhe
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