Altern Wie Ein Gentleman
moralischen und natürlichen Übel des menschlichen Lebens entspringen der Trägheit.« Bei so viel Ursache war es um diese bald geschehen. Der nicht minder bedeutsame Benjamin Franklin gab demselben Verdacht positiven Ausdruck: »Früh schlafen gehn und früh aufstehn schafft Reichtum, Weisheit, Wohlergehn.« Friedrich Schiller schließlich, selbst ein Vorbild an Fleiß und Umtriebigkeit, brachte all das in einem formal tadellosen Zweizeiler unter: »Arbeit ist des Bürgers Zierde – Segen ist der Mühe Preis.«
Mitte des 19. Jahrhunderts hatten Pädagogen, Kirche und – dort, wo sie notwendig war – Gewalt die revolutionäre Arbeitsmoral fest in den Köpfen und Seelen der Menschen verankert. Die neue Pädagogik, so analysiert Michel Foucault, hatte es nicht mehr auf den Körper als Objekt der Züchtigung abgesehen. Sie drang in die Psyche der Menschen ein und ersetzte die traditionelle, eingebläute Disziplin, die nicht immer nachhaltig war, durch Selbstdisziplin. Zu den Messeinheiten der Bürgerlichkeit zählen seither Zurückhaltung der Affekte, ein stabiles Über-Ich, Langsicht über den Augenblick hinaus und Arbeitsethos. Es war dies der größte Paradigmenwechsel in der Geschichte des menschlichen Bewusstseins. Er veränderte tiefgreifend unsere Beziehungen untereinander, zur Natur, zur Kunst, zum Leben und zu uns selbst. Wo einst Unmittelbarkeit war, schob sich der neue Arbeitsstil wie ein Filter zwischen jeden Einzelnen und seine Umwelt und bestimmte, was uns lieb und teuer, wichtig und unwichtig sein würde. Das große Reformwerk bemächtigte sich obendrein, als wesentliche Voraussetzung seines Erfolgs, der Sprache und veränderte die Bedeutung einst geschätzter Begriffe wie Zeitvertreib, Bequemlichkeit, Müßiggang und Ausschweifung. Der späte Nachfahre des adligen Bummelanten, der Flaneur, wurde rüde beiseitegeräumt und in die Feuilletons und Wohnquartiere der Bohemiens verbannt, wo er, den Blicken der arbeitenden Bevölkerung entzogen, keinen Schaden mehr anrichten konnte.
Der französische Moralist La Bruyère hatte diese Entwicklung scharfsinnig erkannt, als er, wenngleich vergebens, den famosen Vorschlag machte: »Es fehlt dem Müßiggang der Weisen nur an einem besseren Namen: Wie, wenn man sich bereitfände, Nachdenken, Sprechen, Lesen und Stillhalten Arbeiten zu nennen?«
Nachdem der Müßiggang bis auf wenige Reste ausgerottet war, sind wir alle zu Sklaven der modernen Arbeitsmoral geworden, mittels derer indes unvorstellbarer gesellschaftlicher Reichtum geschaffen wurde. »Die Tätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäß der Dummheit der Mechanik«, beschrieb Nietzsche die Natur des neuen Menschen. Und E. M. Cioran ergänzte knapp: »Die Arbeit ist ein Fluch. Doch der Mensch hat diesen Fluch in eine Wollust umgemünzt.« Die industrielle Revolution war neben anderem ein erbitterter Kampf zwischen Faulheit und Arbeit und deren technischem Äquivalent, der Glühbirne. Arbeit und Glühbirne haben sich schließlich durchgesetzt.
Trotz deren unbestreitbaren Siegeszugs gab und gibt es weiterhin zahlreiche Anhänger der alten Lehre von der gesunden Trägheit, denn Utopien, vor allem wenn sie vom gelungenen Leben berichten, sind zäh wie Katzen.
Paul Lafargue, der Schwiegersohn des unfassbar fleißigen Karl Marx, hat 1883 in einer kleinen Schrift dem »Recht auf Arbeit« das »Recht auf Faulheit« entgegengesetzt und hofft am Schluss ein wenig pathetisch, wenn es gelänge, ein »ehernes Gesetz zu schmieden«, das jedermann verbiete, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten, so werde »die alte Erde, zitternd vor Wonne, in ihrem Innern eine neue Welt sich regen fühlen«.
Bertrand Russell, ein engagierter Parteigänger der Muße, notierte in einem hübschen Essay: »Ohne die Klasse der Müßiggänger wären die Menschen heute noch Barbaren« und fährt fort: »Ich glaube nämlich, dass in der Welt zu viel gearbeitet wird, dass die Überzeugung, Arbeiten sei an sich schon vortrefflich und eine Tugend, ungeheuren Schaden anrichtet.«
Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Vertreter einer strengen Arbeitsmoral schließlich gesiegt – diesseits der Alpen zumindest. Jenseits aber, dort, wo der Papst weiterhin das Sagen hatte, nahm sich die Entwicklung Zeit und schuf zahlreiche Ruhepunkte für einen gemächlicheren Gang der Dinge. Bis in unsere Tage gibt es in Italien, Spanien und Griechenland ungezählte Widerstandsnester, verteidigt durch rüstige Rentner, die sich weit vor dem
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