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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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Diese mögen einst nützlich gewesen sein, aber im Rentnerdasein stören sie. Wir müssen uns ihrer entledigen.
    Die protestantische Ethik ist im Übrigen ein Gegner, der sein Terrain nicht ohne Widerstand aufgeben wird. Sie ist kein gordischer Knoten, den es mit einem beherzten Hieb zu durchschlagen gilt, sondern die Hydra in jedem von uns, vielförmig, beweglich und listig. Sie verändert ihre Gestalt, wenn sie in die Enge getrieben wird. Sie zieht sich zurück, verharrt über lange Zeit unentdeckt im Ruhezustand, um überraschend wieder präsent zu sein.
    Natürlich wäre es lächerlich, im Zusammenhang mit diesem Kapitel von Pflichtlektüre zu sprechen. Wer jedoch Zeit erübrigen kann, sollte auf das Studium der folgenden beiden Bücher, denen ich viel verdanke, ohne dies im Einzelnen ausgewiesen zu haben, nicht verzichten: Wolfgang Schneiders Enzyklopädie der Faulheit und Tom Hodgkinsons Anleitung zum Müßiggang .
    Bei meinen Erkundungsgesprächen mit Vorgängern in die Rentnerexistenz wurde mir häufig geraten: »Du musst rechtzeitig aus den Federn. Wenn du beginnst, im Bett herumzulungern, ist dies der Anfang vom Ende.« Das klang so bedrohlich, dass ich stets vergaß nachzufragen, von welchem Ende eigentlich die Rede war. Wer früh aufstehen möchte, muss zudem früh zu Bett – eine Aufforderung, die ganz im Gegensatz zu der tiefsinnigen Einsicht von Dr. Johnson, dem klugen und unkonventionellen Freigeist aus dem 18. Jahrhundert, steht: »Jeder, der meint, vor zwölf zu Bett gehen zu müssen, ist ein Halunke.«
    Mir war die Aussicht, in meinem neuen Leben mit den Vögelnaus den Federn zu müssen, von Beginn an verdrießlich. Ich hatte mich immer auf die Wochenenden gefreut und mich mit Zeitungen, Kaffee und Musik bis zur Mittagszeit im Bett wohlgefühlt, häufig unterbrochen durch jenen halbwachen Zustand, in dem Traum, Fantasie und Realität eine raffiniert schwebende Mischung eingehen – ganz im Sinn des verehrten Dr. Johnson: »Der glücklichste Teil im Leben eines Menschen ist der, den er morgens wach im Bett verbringt.« Das hat auch keiner meiner Gesprächspartner in Abrede gestellt, aber zur Bekräftigung der Empfehlung, dem ersten Sonnenstrahl auf Augenhöhe zu begegnen, jene seltsame Theorie hinzugezogen, die besagt, schöne Erfahrungen könnten nur in der Differenz zu ihrem unschönen Gegenteil genossen werden. Ferien entwickeln demnach ihren Reiz vor dem Hintergrund der Arbeit und der Champagnergenuss den seinen im Gegensatz zur Apfelschorle. Da ich nun nicht mehr arbeite, so ihr logischer Schluss, würde mir ein ausgiebiger Morgen zwischen Matratze und Bettdecke auch keine Freude mehr bereiten können.
    Mir war diese Theorie stets verdächtig gewesen. Sie macht aus Lustbarkeit und Sinnenfreude, die ohnedies nicht leicht zu fassen sind, Fußnoten der Arbeit und der Pflichterfüllung. Beide sind demnach ursächlich für die Zerstreuung, deren einziger Zweck die Erholung, als Voraussetzung neuerlicher Arbeit, ist. Es ist die theoretische Begründung für den törichten Satz: »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen« und ein wichtiger Teil der protestantischen Ethik.
    Als Erstes habe ich den Wecker in seiner doppelten Funktion als Uhr und Agent der Pünktlichkeit aus meinem Schlafzimmer verbannt. Ich möchte nicht mehr wissen, wie spät es ist, wenn ich im Morgengrauen in den ersehnten Halbschlaf übergehe, der es mir hin und wieder erlaubt, nach meinen Wünschen zu träumen. Schon gar nicht möchte ich geweckt werden. Ich bin mir Uhr genug, und bislang habe ich noch keinen einzigen wichtigen Termin versäumt. Es gab indes auch keinen, was das betrifft.
    Mein Vormittag gehört den Daunenfedern und dem Morgenmantel, und wenn ich bei Einbruch der Abenddämmerung mit Somerset Maugham sagen kann: »Es war ein so wundervoller Tag. Es wäre eine Schande gewesen aufzustehen«, bin ich ein glücklicher Mensch gewesen.
    Diesem Gedanken folgte auch jene herausragende Aktion von John Lennon und Yoko Ono, die 1969 für den Weltfrieden eine ganze Woche vor aller Augen im Bett verbrachten und absolut nichts taten. Sie führten vor, dass ein Bett mehr sein kann als der Ort der Reproduktion und des Kräftesammelns inmitten lieblos gestalteter Umgebung.
    Wir müssen jedoch nicht nur Gewohnheiten und Ansichten aus den Fesseln der protestantischen Ethik befreien: Auch unser Anekdotenschatz steht auf dem Prüfstand. Anekdoten sind bewährte, oft erzählte Episoden aus unserer Vergangenheit, die wir im Lauf der Jahre

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