Altern Wie Ein Gentleman
brauchen. Wer diese zwangsläufige Entwicklung in seinem Selbstverständnis bereits vorweggenommen hat, der wird sein späteres Schicksal leichter erleiden. Denn leiden werden wir mit wenigen Ausnahmen alle.
Der nächste Schritt besteht darin, sich einer verdächtigen Schar neuer Freunde und Begleiter anzuschließen: der Zeitvergeudung, dem Schlendrian und der Trägheit. Mit dieser bunten Truppe werden wir künftig unsere Tage verbringen. Einst waren sie unsere erklärten Feinde, die Vernünftigen unter uns haben sie meist gemieden. Wer sich trotzdem mit ihnen gemein gemacht hatte, gefährdete seine Karriere. Jetzt werden sie zu kundigen Pfadfindern durch unsere Zukunft. Wer fremdelt und den Kontakt scheut, darf für sich bleiben, aber es wird einsam und freudlos um ihn werden.
Als äußerer Ausdruck unserer neuen Identität sollten wir das Schlendern beherrschen lernen. Es ist dies das Gehen des Flaneurs mit halber Schrittlänge und flacher Sohlenhöhe in einer Körperhaltung, die Ziellosigkeit signalisiert. Wer zügig zu einem Termin eilt, muss auf den Weg achten, um nicht zu stolpern. Seine Gedanken beschäftigen sich mit der Situation, die vor ihm liegt. Die Umgebung ist ihm konturenlose Kulisse von zeitraubendem Ausmaß, ihre Einzelheiten nimmt er nur am Rande wahr. Ihm ist das Ziel alles und der Weg lästig. Er ist ein vorbildlicher Vertreter der protestantischen Ethik.
Der Flaneur hingegen kennt kein Ziel, indessen unbegrenzt Wege. Er achtet das Straßenpflaster nur, weil er unter ihm den Strand vermutet. Ihm bleiben die Sinne frei für die unmittelbare Umgebung, die mit der Anzahl der Lebensjahre stetig an Bedeutung gewinnt. Wir müssen »aus der Haustür treten, als sei man gerade in einem fremden Land angekommen; die Welt entdecken, in der man bereits lebt; den Tag so beginnen, als sei man gerade vom Schiff aus Singapur gestiegen und als habe man noch nie seine eigene Fußmatte oder die Leute auf dem Treppenabsatz gesehen«, erklärt dazu Walter Benjamin, der selbst ein redlicher Flaneur gewesen war.
Der Flaneur darf jedoch nicht verwechselt werden mit dem Touristen, der umtriebig von Attraktion zu Attraktion eilt, um dort die Wirklichkeit sorgfältig mit seinem Reiseführer abzugleichen. Das ist eine moderne Form der Sammelleidenschaft, hinter der sich die protestantische Ethik verborgen hält, die im Berufsleben ihren Bezugspunkt verloren hat und sich nun auf die Freizeit stürzt.
Am besten, man folgt dem Dandy aus Joris-Carl Huysmans Roman Gegen den Strich , dem das »Reisen als Zeitverschwendung« erscheint, da er glaubt, dass ihm »die Fantasie mehr als angemessenen Ersatz für die vulgäre Wirklichkeit des tatsächlichen Erlebnisses bieten könne«. Fantasie und Einbildungskraft sollten ohnedies eine gewichtigere Rolle im Leben der Alten spielen. Sie können Sinne, Schnellkraft und Beweglichkeit ersetzen, wenn diese ihren Dienst nach und nach einstellen.
Neuerdings sind betagte Flaneure auf den Golfplätzen des Landes gesichtet worden, denn so ganz können wir vom zielgerichteten Verhalten mit leichter Konkurrenzbeimischung nicht lassen. Seither herrscht auf den Anlagen, die bislang Walhallas der Langeweile waren, ein angeregter Tonfall. Wer in vier Stunden acht Kilometer zurückgelegt hat, muss gemächlich gegangen sein. Es bleibt viel Zeit zum Gedankenaustausch, man hat ständig Gesprächsstoff, guter Rat ist gefragt, und der sorgfältige Umgang mit reichhaltigem Besteck erinnert an eine Tafel mit erlesenen Genüssen. Statt kurzer Röcke, mit denen wir ohnehin nicht mehr viel anzufangen wissen, betrachten wir Hummeln, Birken und den dottergelben Hahnenfuß.
Wer dort draußen im tiefen Rough auf der Suche nach Bällen umherstreift, hat gute Gelegenheit, Gedanken und Fanta-
sie aus der Gewalt von Nützlichkeit und Verwertbarkeit, die sie bislang gefangen hielten, zu befreien. Nicht um schöpferisch tätig zu werden – dazu ist es zu spät. Der zwanghafte Wunsch, im Alter künstlerisches Potenzial in sich zu entdecken, folgt weiterhin der Diktatur der alten Arbeitsmoral. Selbst gründliche Suche wird nur in Ausnahmefällen verwertbare Begabungen zutage fördern, denn Talent bahnt sich früh seinen Weg und schlummert selten über Jahrzehnte im Verborgenen. Der Kopf muss frei werden für die Herausforderungen der täglichen Augenblicke. Sie sind das flüchtige Material, aus dem unser Leben nun besteht, und das verträgt sich nur schlecht mit den alten Urteilen, Vorurteilen und Gewissheiten.
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