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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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ständig auf ihre Wirksamkeit überprüft und, wenn nötig, verändert und verbessert haben. Sie sind ein wichtiges Werkzeug im Kampf um Aufmerksamkeit und sozialen Erfolg. Wer keine Anekdoten weiß, wird häufig schweigen müssen und gilt den anderen bald als Langweiler. Nebenbei ist die Anekdote ein verlässlicher Maßstab für den Zustand einer Ehe. Loyale Eheleute werden die Anekdoten ihres Partners ohne jegliches Anzeichen von Ungeduld ertragen, selbst wenn sie die Geschichten schon hundertfach gehört haben.
    Während meiner Berufszeit handelten Anekdoten häufig von der Arbeit und den Kollegen. Meist erschien der Erzähler dabei in besonders vorteilhaftem Licht. Das funktionierte, weil in der Anekdote jeder sein eigener Held und Autor ist. Mir sind daher kaum Geschichten erinnerlich, einschließlich meiner eigenen, in denen der Erzähler ein schlechtes Bild abgegeben hätte.
    Für den Rentner sind die Zeiten couragierter Auseinandersetzungen mit dem Chef, den Kollegen, der Konkurrenz und neuer Technik jedoch Vergangenheit. Die Heldentaten von früher langweilen die Gleichaltrigen und stoßen bei den Jüngeren auf Unverständnis. Jetzt stehen das Misslingen und die ironische Distanz zu sich selbst auf der Tagesordnung. Die Niederlage, ohnehin unser tägliches Schicksal, wird zum beherrschenden Thema. Damit sind die alten, bewährten Anekdoten hinfällig geworden, wir müssen sie aus unserer Geschichtensammlung aussortieren und Raum für neue schaffen. Eine unerschöpfliche Quelle werden jetzt der langsame, mit resigniertem Humor akzeptierte Verfall des eigenen Körpers, der wehmütige Rückblick und der Alltag in den Wartezimmern der Ärzte. Nebenbei erschließt sich uns dort eine ganz neue Welt von Lesestoff.
    Der Lebensabend wird kurzweiliger, wenn wir über das Missgeschick anderer, das auch immer unser eigenes ist, lachen dürfen. Der Zweck von Anekdoten ist nun nicht länger die Bestätigung von sozialem Ansehen und beruflichem Erfolg, sondern das Berühren der Seele und des Gemüts der Zuhörer. Dies erreichen wir jedoch nicht durch Geschichten aus einer glanzvollen Vergangenheit, sondern durch sorgfältige Beobachtungen aus einer genügsamen Gegenwart.
    In der Praxis heißt das, wir sind gut beraten, auf eine Vielzahl von Sätzen, die mit »damals« oder »als ich noch« beginnen, in Zukunft zu verzichten. Sie interessieren niemanden mehr. Das ist zweifellos ein Verlust, der die eigene Lebensgeschichte ausdünnt und das Selbstwertgefühl beschädigt. Gleichwohl – es muss gehandelt werden. An die Stelle solcher Sätze tritt nun die Empfindsamkeit für den Augenblick und ein waches Auge gegenüber den ehedem bedeutungslosen Geschichten am Rande, die jetzt ins Zentrum rücken. Aus den Systemtheoretikern meiner Generation werden philosophisch gesehen Phänomenologen.
    Recht besehen, kehren wir im Alter zu den Wurzeln unsererabendländischen Kultur zurück und besinnen uns auf die eigentliche Bestimmung des Menschen: ein gemächliches Leben in Muße und Bedächtigkeit zu führen. Freilich ist uns das, was einst zur natürlichen Grundausstattung jedes Einzelnen gehörte, im Lauf des Arbeitslebens erfolgreich ausgetrieben worden. Im Alter heißt es deswegen nachsitzen und studieren, dieses mit dem anspruchsvollen Ziel, alte Gewohnheiten aufzugeben und neue, von denen wir viele bisher abgelehnt haben, anzunehmen und zu leben.
    Klaus-Peter Anhalt, ein schmaler, beweglicher Mann mit straffem, kahlem Schädel, der als Richter bei der Justizbehörde in Hamburg ein tadelloses Leben geführt hatte, war kurz nach der Jahrtausendwende in Ruhestand gegangen. Er galt den Untergebenen als autoritärer, unzugänglicher, aber gerechter Vorgesetzter. Seinen drei Kindern war er ein strenger Vater, der unnachsichtig seine Vorstellungen vom richtigen Leben durchzusetzen suchte. Diese beschränkten sich auf drei Themen: Fleiß, Zuverlässigkeit, Karriere. Er war damit – unbewusst, aber uneingeschränkt – ein Sachwalter der protestantischen Ethik. Nach seiner Pensionierung habe ich ihn dann als einen toleranten, manchmal verspielten, liberalen alten Herrn kennengelernt, der zu allerlei Schabernack aufgelegt war und sich diebisch freute, wenn seine Enkel vergeblich versuchten, eine echte Kunstfliege von einem Stück Würfelzucker zu verjagen.
    »Mein Vater zog sich mit Beginn des Ruhestands völlig in sich zurück«, erzählte mir seine Tochter, nachdem dieser in den Keller gestiegen war, um eine weitere Flasche Rotwein zu

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