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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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holen. »Er sprach kaum noch. Irgendetwas beschäftigte ihn. Natürlich fragten wir, was los sei, aber er gab keine Antwort. Dann verschwand er mehrmals in der Woche für Stunden in der kleinen öffentlichen Bibliothek, die bei uns um die Ecke liegt. Wir machten uns natürlich Sorgen und überlegten sogar, ärztlichen Rat einzuholen. Aber außer seiner Schweigsamkeit tat er nichts Außergewöhnliches. Die Ruhe, die nun von ihm ausging, war zudem sehr wohltuend. Früher hatte er sich mit starker Meinung in alleseingemischt. Das führte häufig zu Konflikten und ließ uns das Schlimmste für die Zeit nach der Pensionierung befürchten. Aber es kam anders. Nach einem Jahr begann er wieder zu reden, und zum Vorschein kam ein toleranter, großzügiger, verständnisvoller Mann, das genaue Gegenteil seines ehemaligen Charakters. Er hat sich im Jahr des Schweigens, so nennen wir familienintern diese Zeit, vermutlich genau überlegt, welche Anforderungen im Lebensabend auf ihn zukommen würden, und sich entsprechend neu orientiert.«
    »Was hat er denn in der Bibliothek gelesen?«, wollte ich von ihr wissen.
    »Wir haben natürlich irgendwann hinter seinem Rücken nachgefragt: alles, was über Psychologie und Persönlichkeitsbildung zu bekommen war. Ich habe das Gefühl, er hat sich dort neu erfunden.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Ach ja, und seither trinkt er regelmäßig und gelegentlich übermäßig. Aber wenn nicht jetzt, wann dann?«, schloss sie die Geschichte, während der alte Herr mit einer Flasche in der Hand den Raum betrat.
    An dieser Stelle wird es Zeit, über den Rausch nachzudenken,den unerschrockenen Feind der protestantischen Ethik. Der epische Kampf von Kirche, Pädagogen, Gesetzgebern und Fabrikbesitzern gegen die Trunksucht ist hinreichend dokumentiert. Er wird seit Jahrhunderten geführt und ging noch stets verloren. Nun, da wir als Rentner bemüht sind, für uns die alte Arbeitsmoral zu entsorgen, können wir uns in Maßen und ohne schlechtes Gewissen dem Alkohol in all seinen Spielarten zuwenden.
    Im »Rosenpark« habe ich nach Einbruch der Dunkelheit häufig meine neuen Bekannten mit einer Flasche Wein unter dem Arm besucht. Was immer wir unternommen haben – Fernsehsehen, Kartenspielen, Reden, Musik hören –, unser gemeinsamer Freund, der Alkohol, war immer dabei. So manchen Abend haben wir richtig gezecht, verbunden mit unvergesslichen Gesprächen von tiefer Bedeutung, die ein gnädiger Schlaf anschließend aus meiner Erinnerung gelöscht hat.
    Das Zusammenwirken von Dunkelheit, gemütlichem Licht und Alkohol ist die beste Voraussetzung für jenes Zerstreuungsmedium, das mit dem Alter fraglos an Bedeutung gewinnt: das Gespräch. Stoff gibt es im Übermaß, vorausgesetzt, man verschafft dem Gespräch genügend Raum. Natürlich gehen uns zahlreiche Themen wie die aktuellen Berufserfahrungen, Kollegen, Karriere, technische Entwicklungen sowie all die körperlich anspruchsvollen Aktivitäten der frühen Jahrgänge verloren. Im Gegenzug kommen neue, wie die Melancholie des Abschieds, das Gleichmaß des Leidens, der Verlust an Intimität und die Gegenmaßnahmen einer Medizin, die täglich komplizierter wird, hinzu.
    Einige meiner Gastgeber ließ ich angeheitert zurück, andere erreichten nach wenigen Gläsern jene großartige Gleichgültig-
keit, die Ertrag jahrelangen Trinkens ist. Sie nahmen ganz selbstverständlich die segensreiche Wirkung des Alkohols: aufgeräumte Stimmung, Träumen und Vergessen in Anspruch. Man hätte ihnen das Leben verleidet, wenn man ihnen den Alkohol genommen hätte. Er war manchen der engste und zuverlässigste Vertraute geworden und ersetzte die Angehörigen, wenn diese nur gelegentlich den Weg ins Heim fanden.
    Die Amerikaner in »Steps to Heaven« wiederum, die sich allesamt auf dem Weg ins Paradies befanden, waren harte, erfahrene Cocktailtrinker. Sie hatten den Alkohol auf unzähligen Einladungen kennengelernt und sich ein erstaunliches Stehvermögen erworben. Die Zutaten klassischer Cocktails wie Orangen- und Grapefruitsaft, Grenadinesirup und Tonicwasser kamen ihnen jedoch nicht mehr ins Glas, ebenso wenig wie das Getränk der Postmoderne, der Wein. Sie tranken zumeist Whiskey – aus großen, vollen Gläsern und auf Eis. Ihr Lieblingsgetränk war jedoch ein sorgfältig zubereiteter Martini, um dessen richtige Zusammensetzung es ständig heftige Diskussionen gab.
    »Heute hat Jack Bardienst. Er ist ein netter Kerl, aber von Martinis versteht er rein gar

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