Altern Wie Ein Gentleman
nichts.«
»Da geb ich dir recht, aber was erwartest du von jemandem, der aus Sheboygan, Wisconsin, kommt!«
»Er kann nichts dafür.«
»Aber er könnte sich was sagen lassen.«
»Tut er aber nicht.«
»Weil er aus Sheboygan, Wisconsin, kommt.«
»Und weil er ein verdammter, alter Dickkopf ist.«
Bei einem perfekten Martini, wurde ich aufgeklärt, kommen auf sehr kaltes Eis ein halber Teelöffel Angostura und einige Tropfen Noilly-Prat. Die Zutaten werden geschüttelt, und dann wird alles bis auf die Eiswürfel, auf denen ein leichter Geschmack nach Wermut und Angostura zurückbleibt, wieder abgegossen. »Darüber kommt anschließend der Gin, nochmals leicht schütteln, eingießen, fertig. Es klingt so einfach und ist doch so schwierig«, schloss mein Lehrmeister seine kurze, mit großem Ernst vorgetragene Einweisung. »Es heißt«, fuhr er nach einer andächtigen Pause fort, »man soll vor dem ersten Getränk etwas essen. Das ist Unsinn! Gönnen Sie Ihrem Martini einen leeren, aufgeräumten Magen, in dem er sich wohlfühlen und in aller Ruhe seine segensreiche Wirkung entfalten kann. Dann können Sie das Ausmaß Ihrer Trunkenheit selbst kontrollieren, auf jeden Fall besser, als wenn sich Ihr Martini mit Ölsardinen oder Pommes frites herumärgern muss.«
Um siebzehn Uhr öffnete sich jeden Tag die ausladende Bar im weiträumigen Foyer des Heims. Sie schloss, wenn der letzte Gast gegangen war. Viele von ihnen waren folgsame Schüler des verehrten Dr. Johnson. Der Betrieb der Bar lag in den Händen der Bewohner, die Getränke hatten ihren Preis. Der erwirtschaftete Überschuss ging in den Betrieb des Heims und senkte die Kosten. Gut die Hälfte der Heimbewohner versammelte sich am späten Nachmittag um die Bar. Sie tranken, lachten, sangen, flirteten und verabredeten sich für den Abend. So können die späten Jahre auch aussehen.
Die alten Leute mit ihren mächtigen Gläsern waren zwar häufig angeheitert, fielen aber als Ergebnis langen Trainings nie aus dem Rahmen, denn trotz des hohen Alkoholkonsums ihrer Generation war der Rausch eine gesellschaftliche Todsünde gewesen. Sie schwankten ein wenig, mehr nicht. Ihre Zungen gehorchten einer leichten Schwerelosigkeit, aber sie lallten nicht, und auf den Augen lag ein zarter, warmer Schleier, der keinen Streit zuließ. Es war dies eine sehr amerikanische Art, betrunken zu sein, und ein Erbe aus jener Zeit ihrer Geschichte, als ein Mann all seine Sinne beisammen haben musste, um zu überleben.
»Wir trinken zu viel, kein Zweifel! Aber ich bitte Sie – wir sind erwachsen«, erklärte mir ein Gast beim zweiten Martini. »Hier wird keiner mehr seine Leber ruinieren, dazu ist die Zeit, die uns bleibt, zu kurz. Wenn einer der Mitbewohner droht, die Grenzen zu überschreiten, wird er von anderen freundlich, aber entschlossen auf sein Zimmer gebracht. Das passiert allerdings selten. Bis auf ihn da hinten.« Er wies auf einen groß gewachsenen alten Herrn mit der Glatze eines Mannes, der sein Leben im Freien verbracht hatte. »Bill ist Trinker. Er ist krank. Eigentlich hätten wir ihn nicht aufnehmen dürfen. Aber es ist geschehen, und nun hat er immer jemanden ehrenamtlich an seiner Seite, der ihn beobachtet und ihm hilft. Er weiß und akzeptiert das, und gemeinsam lösen wir die Schwierigkeiten bis zum Ende seiner Tage.«
Je länger wir uns unterhielten, desto mehr wurde ich an meine Mutter erinnert. Die hatte in den zwanziger Jahren einige Zeit in Paris studiert und war dort mit der berüchtigten »grünen Fee« in engeren Kontakt geraten, dem Absinth, der um die Jahrhundertwende den Fortbestand der französischen Nation ebenso bedrohte wie die deutschen Truppen, die wenige Jahre später einmarschierten. »Absinth tötet dich, aber er bringt dich zum Leben«, hieß es damals.
Zurück in Deutschland, wo meine Mutter in Heidelberg ihr Studium fortsetzte, verzichtete sie auf eine Reihe der Pariser Eigenarten, die sie mitgebracht hatte, unter ihnen auch auf den regelmäßigen Absinthgenuss. Die Zeiten in der Heimat waren nicht mehr nach französischer Lebensart. Vier Jahrzehnte trank sie keinen Alkohol, was bezeugt, welch tiefe Spuren die »grüne Fee« in ihrem Leben hinterlassen haben musste.
Nachdem sie ihre Berufskarriere beendet hatte, begann sie zu trinken. Ich weiß nicht, warum. Über dieses Thema habe ich mit ihr nie geredet, aus Furcht, es könnten unangenehme Probleme auf den emotional aufgeräumten Tisch kommen. Mit der Zeit entwickelte sie ein fast
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