Altern Wie Ein Gentleman
zärtliches Verhältnis zu ihren Alkoholvorräten. Jede Form des Alkohols spielte eine eigene Rolle in ihrem Tagesablauf. Der Piccolo diente nach dem Aufstehen dazu, ihren Kreislauf anzuregen. Zum Mittagessen gab es Weißwein, der bekanntlich belebt und von alters her zum Essen gehört. Die Verdauung, auf die meine Mutter sich bis auf ihre letzten Tage verlassen konnte, wurde durch ein Kirschwasser unterstützt. Später zum Kaffee kam noch Süßwein hinzu – »das war schon immer so« – und abends eine Flasche Burgunder: »Das hilft mir beim Einschlafen.« Tatsächlich schlief sie zeit ihres Lebens wie ein Murmeltier – mit oder ohne Rotwein.
Dermaßen ausgestattet mit überzeugenden medizinischen und historischen Begründungen für ununterbrochenen Alkoholkonsum, wurde meine Mutter innerhalb kürzester Zeit zur kultivierten Trinkerin. Ich habe sie nie gelöster, zufriedener und glücklicher erlebt. Sie hätte bis an ihr Lebensende trinken sollen, wenn eine Altersepilepsie ihre Trunksucht nicht beendet hätte. Die Entwöhnung zog sich lange hin, denn die alte Dame entwickelte eine bemerkenswerte Fantasie, die Flaschen zu verbergen, und während die Verstecke weniger wurden, erhöhte sie listig das Alkoholvolumen. Ich werde nie den verzweifelten und traurigen Blick vergessen, wenn sie von ihrem Bett aus beobachten musste, wie ich wieder ein Flaschenlager aushob. Damals kam ich mir großartig vor und beglückwünschte meine Mutter zu ihrem wohlgeratenen, verantwortungsvollen Sohn. Heute erscheinen mir meine Triumphe schäbig und selbstgerecht. Denn auch ich habe mir in der Zwischenzeit eine hübsche Sammlung Flaschen angelegt, die im Gegensatz zu Briefmarken oder bildender Kunst einem ständigen Wechsel unterworfen ist. Es scheint, der Alkohol ist in der Lebensmitte vieler älterer Menschen angekommen. Er heitert auf, trägt zu einem positiven Lebensgefühl bei und spendet Trost in oft hoffnungslosen Situationen.
Wie aber steht es um jenes Kraut, das meine Generation einst tüchtig durchgezogen und nur aus Karrieregründen beiseitege-
legt hatte?
»Wir müssen dringend etwas unternehmen«, vertraute mir vor nicht allzu langer Zeit ein Freund an, der seine alten Led–Zep-Platten gelegentlich mit einem Wasserpfeifchen garnierte, »ich habe keine Lust, mich am Cotti« – er meinte den Cottbuser Platz in Berlin – »herumzutreiben, misstrauisch beobachtet von Zivilbullen. Neulich hat mir ein Kameltreiber« – mein Freund meinte das alles nicht so – »einen vertrockneten Maggiwürfel als schwarzen Afghanen angedreht.«
»Du bist ja ein toller Experte«, warf ich ein.
»Es ging alles ganz schnell. Zivile, wo du hinschaust. Ich meine, stell dir das vor: Wir feilschen mit Halbwüchsigen um ein paar Gramm Shit und werden noch übers Ohr gehauen!«
Ich musste lachen.
»Lach nur! Wie machst du das denn?«
»Ich flirte mit der ›grünen Fee‹.«
Er schaute mich ratlos an, und ich beließ es bei diesem geheimnisvollen Hinweis.
Zeit für Zukunft
»Außer der Zeit gehört uns nichts.«
SENECA
Wir Rentner erfahren einen unschätzbaren Zugewinn: die Souveränität über die Zeit. Bislang waren wir die Herren über kleine Inseln in einem Meer von Verpflichtungen, ab sofort kehren sich die Verhältnisse um: Aus dem Knecht von Bürostunden, Familienpflichten, gesellschaftlichen Terminen und Transportleistungen wird über Nacht der mündige Bürger über täglich vierundzwanzig Stunden reiner Zeit. Wohin das Auge blickt: Freiheit, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit – wir Alten sind bis an die Zähne mit Zeit bewaffnet.
Anfänglich ist die Zeit noch eine konturlose Masse, deren Handhabung gelernt sein will. Sie ist das Element, in dem wir von nun an existieren. Wir werden entweder von ihr getragen oder ertrinken in ihr. Sie ist das schönste Geschenk des Alterns, wenn es gelingt, von ihr klugen Gebrauch zu machen. Freilich hat die kostbare Gabe eine ärgerliche Kehrseite: Sie ist nicht auf Dauer gegeben und verzehrt sich unerbittlich selbst.
Am folgenden Morgen des Tages, als ich meinen ARD -Schreibtisch für immer verlassen hatte, schloss sich mir, vorerst unauffällig, neue Gefolgschaft an: das Zeitgefühl. Es ist Ausdruck jener unendlichen Strecke, die aus der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die unabsehbare Zukunft reicht. Ein kurzes Stück Wegs dürfen wir die Zeit aus unerfindlichen Gründen begleiten, dann legt sie uns wieder beiseite. Einzig das Talent der Menschen zu Erinnerung und
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