Altern Wie Ein Gentleman
meinem Leben, vermag ich mir nicht vor Augen zu führen. Kann sein, dass die Schöpfung diesem Gedanken einen Riegel vorgeschoben hat, weil der Blick in den letzten Abgrund unerträglich wäre. Ich behelfe mich derweil mit dem eleganten Sophismus von Cicero: »Was kann daran Schlechtes sein, da der Tod weder die Lebenden noch die Toten etwas angeht? Die Letzteren existieren nicht, die Ersteren wird er nicht berühren.«
Amerikanische Psychologen, die das Zeitgefühl meiner Altersgruppe untersucht haben, bestätigen meine Erfahrungen. Auch bei den Versuchspersonen beginnt das Nachdenken über die Zeit häufig mit dem Renteneintritt. Anfänglich sind es kurze, flüchtige Eindrücke, oft verbunden mit leichter Furcht, die rasch wieder vergehen. Im Lauf der Jahre verdichten sich die Befürchtungen, bis sie fast ständig präsent sind. Gegen diese lästigen Gefährten durch die späten Jahre eines Lebens vermag auch die prächtigste Verdrängung nichts mehr auszurichten.
Ich studiere seither die Geburtsdaten der Todesanzeigen in unseren Tageszeitungen. War der Verblichene lange vor mir zur Welt gekommen, bin ich beruhigt. War er gleichaltrig oder gar jünger, wird mir unbehaglich, und die lästigen Gedanken über die eigene Vergänglichkeit stellen sich ein. Die Bewältigung dieser Befürchtungen und deren ruhige Akzeptanz sei eine der wichtigsten Aufgaben des Alterns, heißt es, und wesentliche Voraussetzung, dass es gelingt. Ich kann jedoch mit dieser Aufforderung vorläufig wenig anfangen und weiß sie auch nicht in die Tat umzusetzen.
»Ich denke jetzt öfter daran, wann wohl Schluss ist«, bemerkte eines Abends überraschend Franz Höhner, einer meiner Nachbarn im »Rosenpark«, während wir gemeinsam vor seinem Fernseher saßen und Bier aus Dosen tranken. »Obwohl, viel gibt es da nicht zu denken. Ich habe ja keine Ahnung, was danach geschieht«, fügte er nachdenklich hinzu.
Wie er ausgerechnet während der Sportschau auf diese Gedanken käme?
»Bei dem Bericht über das Spiel von Hannover 96 musste ich daran denken, wie die 1954 überraschend deutscher Meister wurden und wie sich mein schwerkranker Vater, der aus der Gegend kam, damals gefreut hat. Und dann habe ich an meinen eigenen Tod gedacht.«
Ob ihm der Gedanke lästig sei?
»Ja, es ist auch Angst dabei, hier« – er deutete auf sein Herz. »Willst du nicht haben, musst du aber mit leben.«
Als ich während der Arbeit an diesem Buch bei einem Telefongespräch eher zufällig auf das Thema Zeit und deren Flüchtigkeit zu sprechen kam, rief mein Gesprächspartner erregt und ungehalten ins Telefon: »Nein, nein, hör auf damit! Das habe ich abgehakt, damit habe ich nichts mehr zu tun. Es bringt nichts!« Er war einst ein entschlossener Mann gewesen, der mit raschen Schritten durch das Leben gegangen war und keine Entscheidung gescheut hatte. Nun sei er »ängstlich geworden«, beklagte sich später seine Frau. »Ihm ist beklommen zumute. Etwas treibt ihn um, aber er erzählt nicht, was. Dann muss er damit eben allein fertigwerden.«
Unser Leben spielt sich zwar immer in der Gegenwart ab, aber wir sind in der Lage, in Gedanken Vergangenheit und Zukunft hinzuzufügen. Gelungenes Leben vor der Rente stellt unbewusst eine bekömmliche Mischung aus den drei Zeiteinheiten zusammen. Im Alter wird man neu entscheiden müssen, wo man seine Tage gedanklich verbringen möchte: in der Erinnerung – einer Gegend, in die sich unsere Vorfahren oft zurückgezogen hatten –, im Augenblick mit seinen kleinen Sensationen oder in der Zukunft, die allerdings Perspektiven und Planung voraussetzt.
Meine Generation ist im Vergleich mit der meiner Eltern und Großeltern im Schlafwagen in Rente gekommen. Wir kannten weder Krieg noch Opfer, weder Hunger noch Arbeitslosigkeit, weder Unterdrückung noch Lebensgefahr. Von Schicksalsschlägen, Ausweglosigkeit und Unheil haben die meisten von uns nur aus Erzählungen der Älteren erfahren. Unsere Vergangenheit besteht vornehmlich aus harmlosen Reisen über Backpacker-Autobahnen in Asien, einem Jahr bei einer mittelständischen Gastfamilie in den USA , langen Studienzeiten, sicheren Arbeitsplätzen, unordentlichen Familienverhältnissen und einem kurzen Sommer der Revolte. Das ist kein Holz, aus dem tiefe, haltbare Erinnerungen geschnitzt sind, von denen man zehren kann.
Die Truhen unserer Vergangenheit sind gut gefüllt. Die technische Entwicklung in der Fotografie hat uns zudem brauchbare Instrumente an die Hand gegeben, um
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