Altern Wie Ein Gentleman
bewusster Zäsuren, wie prächtige Hochzeiten, glückliche Geburten und gemütvolle Beerdigungen, um Erinnerungen gegenwartstauglich zu halten. Einiges ist in meiner Generation einem seltsamen Fortschrittsglauben zum Opfer gefallen, anderes einer gesellschaftlichen Entwicklung, die nach den Katastrophen der ersten Jahrhunderthälfte auf leichtes Leben setzte. Wir haben ziemlich spurlos gelebt und wenig Stoff angesammelt, über den nachzudenken sich lohnt. Wer heute noch einmal aus den Schützengräben der Apo blinzelt, so wie einst durch die eingeschlagenen Scheiben eines Rektorats, oder den Angriff der leichten Brigade auf dem Ku’ damm Revue passieren lässt, wird trotz der gewichtigen Flugblätter eine närrische Leichtlebigkeit entdecken. Wer in Berlin eine Räterepublik einrichten wollte, hatte selbst im vierzehnten Semester von der Ernsthaftigkeit des Lebens wenig Ahnung. Er wird sie auch später nur schwerlich gewonnen haben, als soziale Verpflichtungen auf der Tagesordnung standen.
Wir sind die Erfinder der Lebensabschnittspartner, was auf einen recht sorglosen Umgang mit unseren Mitmenschen schließen lässt, der unseren Eltern unmoralisch und leichtsinnig vorgekommen sein muss. Ich selbst stelle da keine Ausnahme dar. Wir haben in der Pension Schöller gelebt und eine Coffee-Table-Book-Vergangenheit: ein Dekorationsstück – groß, umfangreich und bunt, aber lediglich zum flüchtigen Durchblättern geeignet.
Das ist keine gute Wegzehrung für das Alter. Wir werden uns in der Gegenwart tummeln und die Zukunft in Angriff nehmen müssen, die unsere lebenserfahrenen Eltern und Großeltern vermieden hatten. Wenn sie ins Alter kamen, was nur einer Minderheit vorbehalten war, lag eine lange Vergangenheit hinter und eine kurze Zukunft vor ihnen. Sie hatten sich aus den Fesseln der Leidenschaften befreit und begannen, in der Einsicht, dass nicht mehr viel zu holen war, eine erträgliche Gegenwart in genügsamem Behagen zu genießen und sich an Kleinigkeiten zu erfreuen. Bequemlichkeit und Sicherheit wurden wichtige Bedürfnisse. Das Allmähliche begann seine wohltuende Wirkung zu entfalten. Das Glück wurde durch die Abwesenheit von Leid und Schmerz und durch Zufriedenheit mit dem Status quo ersetzt, der freilich nicht von Dauer sein konnte.
Die gelassene Beschäftigung mit der Vergangenheit freilich ist nicht nur Zeitvertreib, sondern Voraussetzung, um allmählich Bilanz zu ziehen. Das Nachdenken über den Ertrag des Lebens, die oft schmerzhafte Frage, ob man seinen Talenten gerecht geworden ist, das Erkennen falscher Entscheidungen und vergeudeter Chancen sind uns nicht freigestellt, sondern kommen von innen unausweichlich auf uns zu. Wer länger verweilt, wird dem Zufall, den wir auch hochtrabend Schicksal heißen, auf die Spur kommen und erkennen, welch bedeutende Rolle er häufig gespielt hat. Entscheidungen, von denen ich damals überzeugt war, sie autonom und im Vollbesitz meiner Kräfte getroffen zu haben, folgten in Wirklichkeit oft einer Einsicht von Wilhelm Raabe: »Man muss sein Brot mit dem Messer schneiden, welches einem das Schicksal, ob stumpf oder scharf, dazu in die Hand gegeben hat.« Wer nach sorgfältiger Prüfung schließlich sagen darf: »Mehr war nun wirklich nicht drin«, hat eine Voraussetzung für ein ruhiges Alter erfüllt.
Meine Generation hat jedoch vorläufig andere Pläne im Gepäck, wenn sie in das Jahrzehnt nach Rentenbeginn einzieht. Für Bilanzen ist es für uns zu früh, denn wir ernten zwar, aber wir säen auch noch. Erst wenn diese späte Saat aufgegangen sein wird, ist der Zeitpunkt für den großen Rückblick gekommen. Wir leben gegen die Einsicht: »Es ist zu spät für alles«, die unseren Vorfahren gute Dienste geleistet hatte. Uns steht der Sinn nicht nach behaglicher Gegenwart und beruhigendem Gleichmaß, sondern nach Zukunft. Wo unsere Großväter angesichts des Endes nur scheu und selten nach vorne blickten, schauen wir dem Morgen entschlossen entgegen. Der Tod verbirgt sich vorerst hinter der nächsten Altersstufe, dem Greisenalter, das noch lange auf sich warten lassen soll. »Der Altgewordene«, vermerkt Ernst Bloch, »der, in abendlicher Kühle auf der Bank vor seiner Haustür sitzend, das verbrachte Leben überschlägt und sonst nichts … ist wirtschaftlich wie inhaltlich außer Kurs gekommen.«
Jetzt wird nachgeholt, was Beruf, Karriere und Familie bislang verhindert hatten. Aus dem gemächlichen Gang unserer betagten Vorfahren durch eine konturlose
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