Altern Wie Ein Gentleman
Planung in ihren mannigfaltigen Formen mag Vergangenheit und Zukunft auch in der Gegenwart zu fixieren, freilich nur als subjektives Empfinden. Die Zeit selbst schreitet unerbittlich voran.
Bislang war die Zeit mir, und vermutlich allen anderen auch, soweit sie bei guter Gesundheit sind, ein seltener Gast im Bewusstsein gewesen, eine formale Maßeinheit, die in erster Linie dazu diente, unser Zusammenleben zu synchronisieren. Sie machte sich bisweilen als Terminnot bemerkbar, bei Verspätungen aller Art und als Orientierungspunkt für gemeinsame Unternehmen. Ansonsten blieb sie unauffällig. Ihr ruhiger Fluss wurde gelegentlich durch herausragende Ereignisse wie Examen, Gehaltserhöhungen oder Vermählungen markiert. Dann zog sie sich wieder zurück. In meinen Gedanken, Befürchtungen und Plänen spielte sie allenfalls eine geringe Rolle. Ich kann mich nicht erinnern, je mit irgendjemandem über das begrenzte Zeitbudget gesprochen zu haben, das uns das Leben zur Verfügung stellt.
Uns Alten jedoch beginnt die Zeit spürbar und schneller zu vergehen.
»Draußen fallen schon wieder Blätter, und dabei ist es doch gar nicht lange her, dass die Forsythien geblüht haben!«
»Ich weiß nicht, wo die Zeit geblieben ist!«
»Das ist schon zwei Jahre her? Ich hätte schwören können, das war erst im vergangenen Herbst.«
Solch erschrockene Ratlosigkeit, die oft mit Furcht einhergeht, ist ständiges Hintergrundgeräusch, wenn alte Menschen beisammen sind und über die Zeit sprechen. Solange wir überzeugt waren, sie sei uns im Übermaß gegeben, spielte deren täglicher Verzehr keine Rolle. Nachdem uns bewusst geworden ist, dass sie unerbittlich zur Neige geht, nimmt sie spürbar an Geschwindigkeit auf, denn ein halb leeres Glas ist schneller ausgetrunken als ein volles, und kleine Mengen vergehen merklich rascher als große. Die Zeit läuft deshalb nicht schneller, aber es hat den Anschein, und der überzeugt allemal mehr als die Logik, vor allem, wenn es sich um eine Kostbarkeit handelt, deren Wert wir lange nicht erkannt hatten. Tage, Stunden und Minuten erinnern uns fortan ständig daran, dass unser Leben endlich ist.
Anfänglich nahm ich das Zeitgefühl nur schemenhaft und distanziert wahr, so wie einen Streifen am Horizont, von dem man nicht weiß: Sind es Wolken, oder ist es Dunst in der Ferne, oder beginnt dort das Meer? Ich begriff jedoch sofort: Es würde bleiben und sich auf Dauer in mir einrichten. Bald zeigte sich, was es noch im Gepäck hatte: die Endlichkeit, den Abschied und das Ende in seiner besiegelten Form, das zwar in jedem Lebensalter möglich ist, im hohen Alter jedoch unvermeidlich.
Vorübergehend lässt mich das Zeitgefühl auch in Ruhe, um sich spontan oder anlässlich äußerer Ereignisse wie Filmen, Lektüre oder dem Schicksal von Bekannten und Verwandten umso nachdrücklicher wieder zurückzumelden. Das Gesicht eines längst verstorbenen Filmschauspielers aus der Jugendzeit weckt Erinnerungen an ein Damals, das unwiderruflich vergangen ist. In Wiederholungen alter Tagesschauen trifft man sich gelegentlich wieder und erinnert sich schmerzhaft an jene aufregende Zeit, die nun einem ruhigeren Fluss gewichen ist. Ein Mannschaftsfoto im Kreis junger Gleichaltriger führt einem die Hinfälligkeit des eigenen Körpers vor Augen.
Jedes Mal werden diese Episoden länger und intensiver und vermischen sich mit einem Gefühl der Beklemmung, der Furcht und im schlimmsten Fall des Grauens. Man befürchtet, dass die Gedankenwelt von der sicheren Spur der vergangenen Jahre abkommt, auf unsicherem Untergrund ein schwer beherrschbares Eigenleben entwickelt und Zeitlichkeit und Ende sich auf Dauer in einem einnisten.
Dem gesellt sich Wehmut hinzu. Sie entsteht, wenn man Reiseziele verlässt, zu denen man mit großer Wahrscheinlichkeit in diesem Leben nicht mehr zurückkehren wird, oder lieb gewordene Aktivitäten aufgibt, weil sie beginnen, den Körper zu überfordern. Ich habe mich stets ungern von Ferienorten, Festen und Freunden verabschiedet, selbst wenn es nur ein vorläufiger Abschied gewesen war. Jetzt gehe ich immer häufiger mit dem Gefühl, es sei für immer. Nach jedem Urlaubsende in der Ferne blicke ich betrübt zurück, und die Vergänglichkeit meldet sich zu Wort.
Das Sinnen und Grübeln über die Zeitlichkeit stößt jedoch stets auf ein Hindernis, das ich nicht zu überwinden vermag: die Vorstellung, ich selbst sei irgendwann nicht mehr. Mein eigenes Ende, den wohl intimsten Augenblick in
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