Altern Wie Ein Gentleman
auch verborgene und längst vergessene Erfahrungen in die Gegenwart zurückzuholen. Während unsere Vorfahren auf ein paar Bilder, wenige, sorgsam bewahrte Gegenstände und Erzählungen von Bekannten und Verwandten angewiesen waren, um Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verknüpfen, können wir auf Fotoalben und Filme zurückgreifen. Es gibt wenige Ereignisse in meinem Leben, bei denen eine Kamera gefehlt hätte. Ferien, Feste, Ausflüge – ständig wurde geknipst oder gefilmt. Ein Blick auf die Bilder, und die Vergangenheit ist bunt und detailreich sofort wieder präsent.
Peter Rautenberg, der melancholische Ziehharmonikaspieler aus dem zweiten Stock des »Rosenparks«, dem ich die einleuchtende Forderung: »Das Alter gehört abgeschafft« verdanke, hat mir auf die Frage, wie er seine Abende verbringe, erzählt: »Ich sitze in der Dämmerung, schaue mir die wenigen Fotos an, die mir geblieben sind, und lebe in den Erinnerungen an meine Frau. Wir waren über vierzig Jahre zusammen. Wir hatten schwere Zeiten, als ich aus dem Krieg zurückkehrte, keine Arbeit hatte und die Kinder kamen. Wir haben das gemeinsam geschafft. Wir hatten auch viele wundervolle Augenblicke, kleine Dinge, die nur wir beide verstehen können.«
»Das sind Ihre versunkenen, schönen Tage.«
Er schaute mich zweifelnd an. »Das sind sehr gegenwärtige, oft schwere Tage«, korrigierte er.
»Sie denken also auch an die dunklen Momente?«
»An die vor allem, da waren meine Frau und ich uns am nächsten.«
Seine Erzählung und die melancholische Gelassenheit, die trotz seiner spürbaren Einsamkeit von ihm ausging, verunsicherten mich plötzlich. Ich überlegte, welch verwertbares Material für mein Alter in mir vorhanden war, und entdeckte viele bunte, nichtige Splitter, aber keinen warmen Honigklumpen, den ich, in Ermangelung eines besseren Bildes, bei ihm vermutete.
»Sie machen mich ganz nervös«, gestand ich nach einer Pause.
»Das war nicht meine Absicht.« Er hatte sofort verstanden, was in mir vorging.
»Was ist mit der Gegenwart, in der Sie ja auch leben müssen?«
»Was soll ich da? Mir reicht die Vergangenheit.«
Er war Oberst in der Bundeswehr gewesen. Mein Leben war vermutlich sehr viel abwechslungsreicher verlaufen als seines, trotzdem erschienen mir seine Erinnerungen fester und verlässlicher als der bunte Bilderbogen, der mir zur Verfügung stand.
Meine Nachbarin hingegen, Tochter eines bayerischen Landwirts und Erbin eines stattlichen Vermögens, hatte im fortgeschrittenen Alter noch einem unehelichen Sohn das Leben geschenkt und ein reisefreudiges, sorgloses Leben geführt. Sie kannte eine Anzahl prominenter Namen, von denen sie gerne Gebrauch machte. Gelegentlich beklagte sie sich über die Beschwerlichkeiten der siebten Lebensdekade, hatte sich aber hinreichend Lebenslust bewahrt, um ein angenehmer Gesprächspartner zu bleiben.
»Ich bin jetzt ganz in der Gegenwart«, erzählte sie mir eines Tages, während sie Topinamburknollen für eine Suppe schälte, deren Zubereitung neben einer sanften Form des Alterns zu ihren unbestreitbaren Vorzügen gehörte. »Die Vergangenheit ist mir fad. Die kenne ich. Ihre Geschichten sind tausendmal erzählt worden, Neues kommt nicht hinzu. Die Alten hören mir aus Höflichkeit zu, und die Jugend weiß nicht, wovon ich rede. Die Vergangenheit ist vorbei, also lasse ich sie ruhen.«
»Aber ohne Vergangenheit keine Gegenwart und Zukunft!«, warf ich etwas akademisch ein.
»Unfug!«, korrigierte sie mich. »Was lehrt mich die Vergangenheit? Dass ich jung war und heute alt bin. Dass ich einst Hoffnungen und Pläne hatte und heute keine mehr. Dass die einst stattliche Zahl meiner Verehrer sich in Luft aufgelöst hat. Die Vergangenheit ist die Stellvertreterin des Verfalls, und den brauche ich nicht täglich vor Augen zu haben.«
»Dafür ist doch eigentlich die Zukunft verantwortlich«, warf ich ein.
»Die kann mich auch«, beschied sie entschlossen, »ich habe keine – mit einer Ausnahme, an die ich aber nicht erinnert werden möchte. Also Schluss mit ihr. Stattdessen Alltag, so viel ich kriegen kann. Damit bin ich vollauf beschäftigt. Um die Zukunft soll sich mein Sohn kümmern. – Wo bleibt der eigentlich? Er wollte schon vor einer Stunde hier sein. Wir haben Konzertkarten, und ich habe nicht alle Zeit der Welt«, legte sie das Thema der Vergänglichkeit resolut zur Seite.
Es bedarf schon einer Mischung aus Leid, dessen Bewältigung und intensiver Freude sowie
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