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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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Gegenwart wird für meine Generation ein betriebsamer Lebensabschnitt. Die Vergangenheit ist aufgebraucht, die verpassten Gelegenheiten sind Geschichte. Jetzt muss neu geplant werden. Die Listen sind lang, und jeder hat seine eigene mitgebracht. Reisen, stets in ferne Länder, wollen sorgfältig vorbereitet sein. Bekannte von mir haben angefragt, ob ich bereit sei, Tenorsaxofon zu erlernen. Sie haben vor, ein Quintett zu gründen, um alte Rocknummern nachzuspielen. Ich habe abgelehnt. Andere besuchen Sprachkurse, Töpferkurse, Kochkurse, Tanzkurse, Lebenssinnkurse, oder sie lernen buschtrommeln an der Volkshochschule. Das reinige die Psyche, schärfe das Taktgefühl und halte jung, wurde mir versichert.
    Studierte unter den Alten studieren noch einmal und erwerben im Sinne Humboldts jene Bildung, die ihnen einst das Brotstudium vorenthalten hatte. Derzeit studieren etwa dreißigtausend Rentner an den sechzig deutschen Universitäten. In manchen Vorlesungen sieht sich das Lehrpersonal ausschließlich ergrauten Häuptern gegenüber. Die Alten gelten als pünktliche und aufmerksame Zuhörer. Auch meine Mutter schrieb sich mit Anfang siebzig an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Münchner Universität ein. Auf meine Frage, ob sie sich nach der Vorlesung zusammen mit ihren Kommilitonen für das Mensaessen anstellen würde, antwortete sie ernüchtert: »Ich bin die Jüngste. Meine Kommilitonen stellen nach der Vorlesung ihre Hörgeräte ab und sind dann unerreichbar.«
    Jenseits der Alpen muss es zahlreiche Malschulen geben, denn eine zunehmende Zahl von Freunden und Bekannten packt im Frühjahr Pinsel, Farbe und Leinwand ein und zieht, in der Tradition der deutschen Klassik, nach Italien, um dort Leinwände vollzumachen. Die weitherzige Definition dessen, was Kunst sei, befördert solche Ausflüge. Das bringt jede Menge Festtagsgaben hervor, ist eine besonders subtile Form des Geschenketerrors und hinterlässt vergiftete Erbschaft. Die vom Verblichenen mit viel Eifer und meist mäßigem Talent hergestellten Kunstwerke entwickeln nach dessen Ableben oft ein zähes Eigenleben an Wänden, auf Dachböden und in Gästezimmern. Es dauert zuweilen Jahrzehnte und bedarf mancher Auseinandersetzung, bis sie schließlich entsorgt sind. Andere entdecken die Geschichte, beschäftigen sich mit ihren Vorfahren oder vergangenen Ereignissen ihrer unmittelbaren Umwelt. Zu den wichtigsten Entdeckungen in diesem Zusammenhang aber gehört das Golfspielen, das Bermudadreieck der Zeitvernichtung.
    Seltener stehen Aktivitäten rund um die Familie auf der Liste der Dinge, die noch erledigt werden müssen, denn man braucht nun »endlich Zeit für sich«. Die Auswahl der Beschäftigungsmöglichkeiten jedenfalls ist so groß, wie das Leben vielfältig ist. Und jedes dieser Vorhaben wird mit einem Ernst verfolgt, der während der Berufsjahre schon mal die Ausnahme war.
    Meine Generation nimmt entschlossen die Gegenwart in Besitz, um sich eine eigene Zukunft zu schaffen. Die Welt der Vergangenheit meiden wir, in dem zutreffenden Verdacht, dass sie nur spärlich möbliert sein könnte. Wir scheuen die Ruhe, suchen die Unruhe und gehen das Risiko ein, mit dem Projekt einer Zukunft für uns zu scheitern. Wir gehen auf unbekanntem Grund den Weg in eine Landschaft, deren Konturen und Herausforderungen kaum zu erkennen sind. Diese Geschäftigkeit und das ständige Gefühl, Pläne in die Tat umsetzen zu müssen, setzen unser Gefühl für Zeit unter Druck, mit der Folge, dass sie uns noch schneller enteilt.

Kostbarer Neuerwerb: die Weisheit
    » Wer nur weise ist, führt ein trauriges Leben.«
    VOLTAIRE
    Alte Menschen erleiden im Alter oft erhebliche Verluste. Was aber bekommen sie als Entschädigung? Bisher stets dasselbe, und zwar durch alle geschichtlichen Epochen hindurch: Altersweisheit – so viel sie wollen und verkraften können. Der Erwerb von Weisheit ist demnach eine der wichtigsten Voraussetzungen, um erfolgreich zu altern. »Weisheit erwerben ist besser als Gold« (Sprüche 16, 16) lesen wir im Alten Testament. Dreitausend Jahre später erklärte Hegel: »Das natürliche Alter ist die Schwäche; das Alter des Geistes hingegen ist seine vollkommene Reife.« Da besteht kein wesentlicher Unterschied. Cicero merkte seinerzeit zwar kritisch an: »Keine Weisheit besitzt genügend Kraft, um einen großen Kummer erträglich zu machen«, aber seine Bedenken blieben folgenlos.
    Die Altersweisheit wurde durch die Zeit ein stabiles Fundament in der

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