Altern Wie Ein Gentleman
hat ja im Lauf der Zeit einen Vorrat bewährter Anekdoten gesammelt, um den oft trockenen Seminarstoff, mittelalterliche Versmaße beispielsweise, durch Gelächter ein wenig verdaulicher zu machen. Irgendwann aber verging den Studenten das Lachen, stattdessen schauten sie mich ratlos oder befremdet an. Es dauerte eine Weile, bis ich begriffen hatte, dass sie die Protagonisten meiner Anekdoten nicht mehr kannten! Wolfgang Neuss war ihnen ebenso fremd wie Peter Kraus oder Franz Josef Strauß. Meine Wehner-Imitationen, die früher so gut ankamen, schienen ihnen peinlich zu sein, sie hatten ihn nicht mehr im Ohr. Und Lebertran kannten sie auch nicht.«
»Lebertran?«
»Ja, Lebertran. Ach, vergiss es!« Er lachte unfroh. »Meine Geschichten hatten sich überlebt und ihr Publikum verloren, zumindest unter den Studenten. Ich habe das echt als Verlust an Gemeinsamkeit empfunden. Na ja, ich habe ja noch euch«, fügte er ein wenig bekümmert hinzu.
Einen Augenblick war es still.
»Das kommt vom Alter. Wenn Ereignisse vier Jahrzehnte zurückliegen, sollte man beginnen, über sie zu schweigen«, nahm der Dichter in unserer Runde, der vor der Rente sein Geld in einer Versicherungsanstalt verdient und nebenbei einige Bände komplizierter Poesie im Eigenverlag veröffentlicht hatte, den Gedanken auf und fügte hinzu: »Das gilt vor allem gegenüber jungen Leuten.«
»Dafür hast du jetzt Altersweisheit und kannst damit beim Nachwuchs Eindruck machen«, mischte sich die einzige Frau in unserem kleinen Kreis ein. Sie gab nach einem langen Berufsleben als Gesprächstherapeutin inzwischen den Lesern einer Jugendzeitschrift unter Pseudonym guten Rat bei deren Beziehungsproblemen.
»Altersweisheit – was ist das überhaupt, und braucht die jemand?« Ich sah fragend in die Runde.
»Auf jeden Fall ist sie das Gegenteil von Ausschweifung und Unvernunft, von Unrast und Ungeduld.«
»Dein Weinkonsum fällt also nicht unter Weisheit?
»Das nicht, aber er kann unter günstigen Umständen dorthin führen.«
»Braucht niemand«, befand der Dichter knapp. »Meine halbwüchsigen Enkel, die ja wohl die Adressaten meiner Weisheit sind, wollen von mir nichts Weises wissen. Im Gegenteil: Wenn jemand was wissen will, bin ich es, der bei ihnen nachfragt.«
»Du brauchst vermutlich Hilfe, um deinen Computer in Schwung zu halten. Es geht aber nicht um Wissen oder Sachfragen. Es geht um grundsätzliche Entscheidungen. Weisheit wird nicht jeden Tag gebraucht, sondern selten, aber sie wird zu entscheidenden Anlässen abgerufen.«
»Haben deine Enkel deine Weisheit schon mal in Anspruch genommen?«
»Nein, noch nie!«
»Was sollen die auch in Anspruch nehmen?«, nahm der Professor, dem die Pointen abhanden gekommen waren, die Gelegenheit wahr.
Die Runde lachte.
»Da hat er nicht unrecht. Ich wüsste nicht, was ich meinen Enkeln, außer den Jahren, voraushätte und was für sie wichtig und von Bedeutung wäre. Auf jeden Fall keine Erkenntnisse, die aus einer fernen Vergangenheit stammen.«
»Ich will euch sagen, wozu Weisheit da ist. Sie sagt uns Alten: Schickt euch in euer Schicksal. Auch wenn es hart wird, klagt nicht und lasst uns in Ruhe mit euren Nöten. Dann kriegt ihr den Ehrentitel ›Weiser alter Mann‹.«
»Oder ›Weise alte Frau‹!«
»Schon recht.«
»Wunderbar! Das klingt verdächtig nach Resignation und Hilflosigkeit. Ich werde misstrauisch, wenn von später Ernte oder Ähnlichem die Rede ist. Ich ernte lieber von Beginn an, und zwar täglich, nicht erst nach sechs Jahrzehnten. Und schon gar nicht als weiser Alter, der guten Rat für seine Enkel hat.«
»Wenn wir alle weise wären und ständig gute Ratschläge hätten, gäbe das ein ziemliches Getöse. Da würden unsere Kinder sich bald die Ohren zuhalten, denn nichts ist so lästig wie weiser Rat, der sich auf die Weisheit des Alters beruft!«
»War jemand von euch schon mal weise?«
»Erbeten oder unerbeten?«
»Beides!«
»Ich habe versucht, meinem Enkel klarzumachen, dass er die Schule erfolgreich beenden muss, und ihm erklärt, was passiert, wenn er scheitert.«
»Sehr originell! Aber dazu braucht es keine Weisheit. Das wissen auch Lehrer, Eltern und selbst ältere Geschwister.«
»Meine zwölfjährige Enkelin hat mir vor Kurzem anvertraut, dass sie zum ersten Mal unglücklich verliebt sei. Das hat mir gefallen, denn ihrer Mutter, meiner Tochter, hat sie nichts erzählt.«
»Wo kommt da jetzt deine Weisheit ins Spiel?«
»Ich habe ihr aus meiner
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