Altern Wie Ein Gentleman
überall jedem Gespräch folgen, braucht er heute einen stillen Winkel, um dabei zu sein. Zog er sich vergangenes Jahr noch einen scharfen Scheitel, schützt heute eine Wollmütze das kahle Haupt.
Ein Bekannter, der kürzlich seinen letzten Arbeitstag hinter sich gebracht hatte, schilderte mir einige Tage später einen Albtraum: »Stell dir vor: Ich saß auf einen Stuhl gefesselt hilflos in einer riesigen senkrechten Röhre. Anfangs waren die Wände in allen Richtungen etwa dreißig Meter von mir entfernt. Keine Panik also! Dann begannen sie sich langsam auf mich zuzubewegen, ganz offensichtlich mit dem Ziel, mich zu zerquetschen. Ich versuchte mich zu befreien, denn aus der Röhre führte eine unendlich lange Leiter nach oben. Aber ich kam nicht los! Kurz bevor es so weit war, bin ich aufgewacht. Kannst du mir sagen, was das bedeutet?«
»Willkommen!«, entgegnete ich, ohne mit seinem Verständnis zu rechnen.
Schließlich fordert die Weisheit unseren Frieden mit der Vergangenheit, die ohnehin nicht mehr zu ändern ist. Sicherlich hätte vieles anders und manches besser laufen können, aber die Chance auf einen Neuanfang ist im Alter ein für alle Mal vertan. Wer es trotzdem versucht, gibt das bedauernswerte Bild tragischer Ungleichzeitigkeit ab. Zwar spricht einiges für die spöttische Einsicht: »Im Alter bereut man die Sünden, die man nicht begangen hat«, trotzdem sind wir gut beraten, sie beiseitezulegen.
Ausdruck der Weisheit im täglichen Leben der Alten und ihr nah verwandt ist die Würde. Ein Bekannter, der gelegentlich Anteil nahm an meinen Bemühungen, unser Alter zu verstehen, schickte mir, nachdem ich ihm berichtet hatte, dass ich versuchte, über Weisheit und Würde nachzudenken, folgende Notiz:
»Zur Hölle mit der Würde!« (Mein Bekannter hatte vor vielen Jahrzehnten in einer linken Splittergruppe entschlossen, wenn auch erfolglos, wie wir heute wissen, Flugblätter gegen das System verfasst und seinen Furor noch nicht verloren.) »Sie ist Terror, den uns die Jugend aufzwingt, um jene Nebengeräusche zu unterdrücken, auf die wir ein Anrecht haben: Seufzen und Verfluchen. Der würdevolle Alte ist Knecht im Dienste der Bequemlichkeit unserer Kinder und Enkel. Die Jugend jammert und klagt ständig ohne Grund. Nun, da wir jede Menge Anlass haben, unsere schwachen Stimmen klagend zu erheben, sollen wir still sein? Würde macht aus stolzen Alten Duckmäuser und Heuchler und raubt uns die letzte Kraft!«
Es ist also eine seltsame Sache, die da in uns heranwächst. Doch wie entsteht jenes kostbare Gebilde aus Einsicht und Gelassenheit, Demut, Resignation und Würde, das wir Weisheit nennen?
Ich weiß es nicht. Es bleibt ein Rätsel, wie sich die Altersweisheit angesichts der Katastrophen, die gleich einem Rudel bengalischer Tiger über uns herfallen können, entwickeln kann. Eher würde man vermuten, dass Verzweiflung, Wut und Schwermut uns übernehmen. Sie tun es jedoch nur in seltener Ausnahme. Je länger man sich mit dem Menschen beschäftigt und erstaunt zur Kenntnis nimmt, was ihm alles möglich ist, desto mehr kommt man zu der Überzeugung, dass wir einen inneren Kompass haben müssen, der häufig sicher und überlegen auf die verschiedenen Lebensumstände zu reagieren weiß. Sein Wirken bleibt indes verborgen und macht sich spröde gegen jede Wissenschaft.
Die Altersweisheit ist meiner Generation vorerst noch fern und fremd. Das liegt zum einen an der eingeschobenen neuen Lebensphase der »Vierziger«, die der Weisheit noch nicht bedarf. Das liegt aber auch am Charakter der Weisheit, die unserer Neigung zur Aufmüpfigkeit fremd ist, und schließlich am Verlust von Kompetenzen gegenüber unseren Nachkommen. Weisheit war einst eng verknüpft mit Sachverstand, der von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Die Alten waren auch Ratgeber, die den Nachwuchs etwas lehrten. Diese Zeiten sind vorbei. Wenn heute jemand jemandem etwas beibringt, dann der Enkel dem Opa den Umgang mit neuen Techniken und die Bedeutung unbekannter Wörter.
Die kleine Abendgesellschaft hatte über den Dächern von Berlin bereits einige Zeit miteinander verbracht. Die zweite Flasche Rotwein wurde gerade geöffnet, als das Gespräch überraschend und ausgelöst durch eine Geschichte des Gastgebers auf das Thema Altersweisheit kam. Der Hausherr, ein Literaturprofessor im Ruhestand, hatte berichtet, wie ihm in den letzten Jahren seiner Lehrtätigkeit nach und nach der Kontakt zu seinen Studenten verloren ging.
»Man
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