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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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Hemingway.«
    »Der hat’s begriffen.«
    »Wir denken langsamer, entscheiden zögerlich, mischen uns aus Erschöpfung selten ein und haben keine Kraft mehr, uns aufzuregen. Das Ganze nennen wir Weisheit, und alle Seiten sind’s zufrieden.«
    »Wenn jemand weise erscheint, so liegt es daran, dass seine Torheiten seinem Alter und Vermögen angemessen sind. Sagt La Rochefoucauld.«
    »Feine Adresse.«
    »Mein Reden. Die Weisheit ist eine Form des Mangels.«
    »Hier ist ein Zitat von Adorno!«
    »Da kann nichts Gutes draus werden.«
    »Tut es auch nicht. Hört her: Wenn von einem Menschen fortgeschrittenen Alters gerühmt wird, er sei besonders abgeklärt, so ist anzunehmen, dass sein Leben eine Folge von Schandtaten darstellt.«
    In diesem Augenblick kam der halbwüchsige Sohn einer späten Ehe des Gastgebers von einem Badmintonturnier zurück. Er schaute uns mit jener freundlichen Gleichgültigkeit an, die das Vorrecht der Jugend ist. »Nichts gegen eure Weisheit, aber behaltet sie besser für euch.«
    Er nickte uns zu und verschwand im hinteren Teil der geräumigen Wohnung, während wir das sperrige Thema beiseitelegten und uns in die gute alte Zeit zurückzogen, um gemeinsam durch unsere herrliche Vergangenheit zu vagabundieren.

Späte Schuld
    »Die Gelegenheit wird einem gegeben,
manches wieder gutzumachen.«
    ELIAS CANETTI
    Vor zwei Jahren war ich überraschend Mietopa geworden: Vermittelt durch ein Filmprojekt hatte ich damals Großvaterpflichten bei einem lebhaften, wohlerzogenen Knaben übernommen. Ich bemühte mich, Harry Potter zu verstehen, sah mir Zeichentrickfilme an, zwang meinen Leib in enge Baumhäuser und erstürmte chancenlos Treppen, um als Erster im vierten Stock zu sein. Ich setzte aus Legosteinen kleine, armselige Modelle zusammen, spielte »Mensch ärgere Dich nicht« und verlor ständig, denn Niederlagen mochte der Knabe nicht leiden. Hin und wieder schlichen wir uns verstohlen zu McDonald’s, was streng verboten war. Da seine ernährungsbewusste Mutter regelmäßig Straßenmärkte besuchte, um dort beschmutzte Karotten und verwurmtes Obst zu kaufen, rang ich ihm das Versprechen ab, nichts zu verraten. Und am selben Abend der strenge Blick der Mutter. Ich war eben doch nur Mietopa.
    Meine ursprünglichen Angebote, Museen zu besuchen, gehaltvolle Monologe über gewichtige Themen zu halten, Ausflüge in die schöne Natur zu unternehmen oder mit gutem Rat zu helfen, stießen auf geringe Gegenliebe. Irgendwann begriff ich, dass meine Erfahrungen und die Geschichten aus der guten alten Zeit, auf die wir Alten so stolz sind, den Jungen weniger bedeuten, als ich angenommen hatte. Das galt gleichermaßen für die Mutter, um diesen Einwand vorwegzunehmen.
    Marcel rief mich von Anfang an unbefangen »alter Mann«. Auf meinen Hinweis, ich hätte einen Vornamen, Sven nämlich, antwortete er freundlich: »Das weiß ich, alter Mann.« Seither ruhte das Thema, nicht aber die Anrede.
    Mietopa kann anstrengendes Tagewerk sein. Da man sich nicht in die Erziehung einmischen darf, sind die Chancen, auf den Enkel Einfluss zu nehmen, gering. Der weiß das und erkundet ständig, wie weit er gehen darf. Beliebt und bewährt bei diesen jugendlichen Forschungsarbeiten ist der Einsatz von Wörtern, die Erwachsene aus ihrem Sprachschatz getilgt haben. Jetzt was? Überhören, tadelnde Blicke, ein Diskurs über die guten Sitten? Persönlichkeit und natürliche Autorität sollen helfen, vorausgesetzt, man hat selbige, und der Knabe erkennt sie.
    Gleich zu Beginn unserer Beziehung waren Marcel und ich in einer Modelleisenbahnausstellung. Auf der Fläche eines Handballfelds waren Berlin und seine Umgebung sorgfältiger nachgebildet, als das die Wirklichkeit je vermag. Der Eintritt kostete gutes Geld. Nach wenigen Minuten erklärte mir Marcel, ihm sei langweilig.
    »Wie – langweilig?«
    »Langweilig eben!«
    »Aber schau doch: All die Züge, der Fernsehturm am Alexanderplatz, dort hinten ist der Bahnhof Friedrichstraße, und auf der Wuhlheide findet ein Rockkonzert statt, mit tausend kleinen Männchen!«
    »Aber mir ist langweilig. Ich geh jetzt.«
    »Wie – du gehst?«
    »Ich gehe!«
    »Du gehst?«
    »Ja!«
    »Das lasse ich nicht zu!«
    »Du kannst mir nichts verbieten. Du bist nicht mein Vater!«
    Wir gingen. Ich war beleidigt und bewunderte ihn gleichzeitig für die geradlinige Art, seine Interessen zu vertreten, eine Fähigkeit, die ich im Laufe eines langen Berufslebens zugunsten von Taktik aufgegeben hatte. Er

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