Altern Wie Ein Gentleman
ansonsten reichlich unordentlichen Menschheitsgeschichte. Folglich darf vermutet werden, dass wir sie, die uns so lange schon begleitet, gründlich kennengelernt haben. Haben wir jedoch nicht, oder lediglich in Umrissen! Hinter dem sanften Wort mit dem wohltuenden Gleichklang, von dem wir unbekümmert so häufigen Gebrauch machen, verbirgt sich eine verwirrende Bedeutungsvielfalt.
Die wichtigsten Fragen in diesem Zusammenhang sind vage oder gar nicht beantwortet: Um welchen Stoff handelt es sich bei der Weisheit? Wie entsteht sie? Was behindert oder fördert ihre Entwicklung? Wie genau wirkt sie im alten Menschen? Und schließlich eine Frage, die meine Generation, die bislang wenig Neigung zur Weisheit gezeigt hat, interessieren wird: »Ist ein gesegnetes Alter auch ohne Weisheit vorstellbar?«
Natürlich hat sich auch die Wissenschaft der Weisheit angenommen. Um den sperrigen Begriff besser handhaben zu können, unterscheidet sie eine Reihe von Weisheitsdimensionen. Dazu gehören: umfassende Kenntnisse über Lebensbezüge und Menschen sowie ein angemessener Umgang mit ihnen; die Fähigkeit, gesellschaftliche und historische Verbindungen auch über größere Zeitspannen gedanklich herzustellen; das Vermögen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden; und schließlich: auch in kritischen Situationen ruhig Blut zu bewahren. Das ist recht besehen ein Katalog von Eigenschaften und Fähigkeiten, die von jedem, der verantwortlich handelt, verlangt werden, und kein Privileg weiser Alter, von denen man ohnehin nur selten komplexe Entscheidungen erwartet.
Auch von einem neuen Begriff darf berichtet werden. Er lautet »Gerotranszendenz« und stellt den Gegenentwurf zur hektischen Betriebsamkeit der neuen Alten dar. Demnach sollen sie von materiellen Werten, sozialem Getümmel und endlosen Aktivitäten Abstand nehmen und sich stattdessen auf Einsamkeit, Innerlichkeit und eine passive Form der Lebensgestaltung einlassen. Dahinter verbirgt sich die Furcht der Jungen, ihre Eltern könnten auf die bewährte Weisheit verzichten, die so überaus beruhigend auf die Gemüter einwirkt.
Nachfragen im »Rosenpark« zum Thema Gerotranszendenz verliefen im Sande oder stießen bestenfalls auf ratlose Gegenfragen:
»Was meinen Sie damit?«
»Braucht man das jetzt?«
»Hab ich von gehört, sagt mir aber nichts.«
»Bitte, was?«
»Ist das Vorschrift?«
Soweit erkenntlich, handelt es sich bei der Weisheit um eine Art innerer Gelassenheit und Selbstzucht, die dazu führt, dass man die Beschädigungen des Alterns und die Vorgabe der Endlichkeit, nachdem man sie körperlich erfahren und zur Kenntnis genommen hat, klaglos akzeptiert. Wobei mit »klaglos« nur die laute Klage, das Fluchen, Flehen und Verdammen ausgeschlossen ist. Wer schweigt und seine Verzweiflung und Trauer über die Verluste für sich behält, gilt den anderen auch als weise. Man arrangiert sich mit einer ungnädigen Natur, die man über viele Jahrzehnte im Griff hatte, die im Alter aber die Oberhand gewinnt und die Herrschaft übernimmt. Weisheit wäre demnach die Einsicht, dass Widerstand zwecklos geworden ist und dass die demütige Unterwerfung und der Respekt vor dem Unabänderlichen noch die beste Wahl sind. Wer sich chancenlos verkämpft, verpasst jene Momente kleiner Zufriedenheiten, die auch wir Alten noch zahlreich erleben können. Wir verzichten fortan auf das Glück in seiner hergebrachten Form und sind zufrieden, wenn Schmerz und Verluste erträglich bleiben.
Altersweisheit darf nicht mit Kenntnis oder Kompetenz verwechselt werden. Sie schließen sich zwar nicht aus, sind jedoch unabhängig voneinander in unserem Besitz. Altersweisheit ist, im Gegensatz zur Kenntnis, schüchtern, scheut die Öffentlichkeit und wirkt im Verborgenen. Sie gibt nur ungern guten Rat, denn sie hat genügend auf dem weiten Feld unserer verwundeten Innerlichkeit zu tun. Sie hilft dem, der über sie verfügt, die Folgen der Altersschäden lautlos zu beherrschen. Die Weisheit wirkt dabei in doppeltem Sinn: In uns schafft sie Gelassenheit, die anderen verschont sie mit unserem Leid, dem sie ohnehin nicht abhelfen können.
Der weise Alte erkennt kommentarlos die Grenzen an, die sich ständig zu seinen Ungunsten verschieben und sein Terrain immer stärker einengen. Diese Grenzverschiebungen können schmerzhaft sein und finden ständig statt: War er vorgestern noch in der Lage, im Park seine Runden zu drehen, zwingen ihn heute die Knie in den Lehnstuhl. Konnte er vergangene Woche noch
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