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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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hingegen war mit sich im Reinen und völlig unbekümmert.
    Das klingt ernüchternd und ist oft anstrengend, trotzdem fühlte ich mich wohl als Mietopa. Gelegentlich fragte ich mich, weshalb, und habe doch keine Antwort gefunden. Wozu auch? Man muss nicht alles begreifen und durchschauen, schon gar nicht im Alter, wenn es nur noch zu tun und wenig zu erreichen gilt. Ich freute mich auf jedes Wiedersehen, das reichte. Es mag Marcels Mischung aus Unbefangenheit und Gutgläubigkeit gewesen sein, die auch mir einst eigen war. Sicherlich spielte die unkomplizierte Aufnahme in seine kleine Familie eine Rolle. Vielleicht war auch die Gegenwart von uferloser, fremder Zukunft reizvoll, während die eigene zu einem dünnen Rinnsal geworden war. Die Zeit mit dem Jungen wirkte obendrein wie ein Schlüsselbund, mit dem ich Pforten zu vergessenen Erlebnissen aufschließen konnte. Das hält zwar nicht jung, macht aber die Vergangenheit reicher.
    Viele meiner Generation werden wegen der niedrigen Geburtenrate auf Enkel verzichten müssen und notgedrungen im verwandtschaftsfreien Raum alt werden. Parallel steigt die Zahl der alleinerziehenden Mütter. Beiden kann geholfen werden, wenn die einsamen Alten willens sind, unentgeltlich klassische Großelternpflichten zu übernehmen. Die Verlassenheit der einen deckt sich mit der Not der anderen. Umgangssprachlich werden diese ehrenamtlichen Großväter und Großmütter »Mietoma« oder »Mietopa« genannt, offiziell heißen sie »Wunschgroßeltern«. Überall im Land sind lokale Gruppen entstanden, die den Austausch organisieren. Im Internet sind sie unter dem Stichwort »Wunschoma« und der Ortsangabe leicht aufzuspüren. Einige versprechen den Enkeldienstwilligen einen Zuwachs an Jugendlichkeit: »Bleib jung – hol dir ein Enkel«! oder: »Enkel dich fit!« Das Gegenteil ist der Fall. Im Umgang mit den gelenkigen Kindern erfährt man die eigene Unbeweglichkeit. Ihre Sprunghaftigkeit führt zu kurzem Atem. Die Musik der Jungen klingt auch nach häufigem Anhören nicht vertrauter für die eigenen Ohren. Es ist eine stete Erfahrung von Verlusten.
    In den Räumen der evangelischen Diakonie in Berlin-Schöneberg sind etwa zwanzig Wunschomas und -opas zum gemeinsamen Ratschlag zusammengekommen. Es sind Vertreter jener Mittelschicht, die eine sichere, wenngleich keine üppige Rente verzehrt. Die Debatte wogt hin und her: Darf man in den Erziehungsprozess eingreifen? Ist man nur Freizeitoma, oder gilt es, höhere Ziele zu verfolgen? Sollte man bei Problemen das Jugendamt informieren? Wer trägt die Kosten für Kino-, Schwimmbad- und Zoobesuche?
    Irgendwann verebbt die Diskussion in der großen Runde und löst sich in Einzelgespräche auf.
    Sie habe drei Kinder großgezogen, erzählt mir eine ältere Dame: »Die sind nun aus dem Haus. Nachwuchs ist nicht zu erwarten. Deswegen habe ich mich entschlossen, auf diese Weise mit der Enkelgeneration in Kontakt zu kommen.«
    »Enkel sind bei der niedrigen Geburtenrate selten geworden«, wirft ihr Nachbar ein, »da kommt die Idee des Mietenkels gerade recht, um den Mangel zu beheben.«
    »Wir haben zwar Enkel«, mischt sich die Frau zu seiner Linken ein, »aber unsere Tochter lebt in München. Wir sehen uns kaum. Die kleine Johanna bringt jetzt Abwechslung in unseren Alltag.«
    »Außerdem«, weiß ein Vierter zu berichten, »fordert so ein Knabe vollen körperlichen Einsatz und hält jung. Ich habe mich seit Langem nicht mehr so wohlgefühlt. Nächstes Wochenende geht’s zum Fußball.«
    Ausführlich erzählen sie, mit immer neuen Details, wie nützlich so ein Enkel für das eigene Leben sei, und welchen persönlichen Vorteil sie haben.
    Das Ehrenamt hat gute Tradition hierzulande. Mehr als zwanzig Millionen Deutsche arbeiten verbindlich und auf Dauer in unterschiedlichsten Bereichen. Ohne diese preiswerten Hilfskräfte müssten die freiwillige Feuerwehr, die kleinen kommunalen Parlamente, fünfundzwanzigtausend Sportvereine, die Parteien und Sozialdienste und viele mehr vermutlich ihre Arbeit einstellen.
    Im Gegensatz zu angelsächsischen Ländern haben wir allerdings die soziale Fürsorge dem Staat überlassen, der wiederum seine Leistungen aus Steuergeldern bezahlt, so dass jeder Beschäftigte über seine Abgaben mittelbar Arbeit für die Bedürftigen leistet. So entstand der Eindruck in der Öffentlichkeit, die Deutschen täten sich schwer mit dem Ehrenamt. Die höhnisch-herablassende Umkehrung der ursprünglichen Wortbedeutung vom »Gutmenschen«

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