Altern Wie Ein Gentleman
freien Stücken wird die lange Lebensdauer den alten Menschen in Zukunft für viele zum Fluch werden.
Bislang ist das Ehrenamt sympathischer Wildwuchs, die ihm eigene Unverbindlichkeit im Gegensatz zur Erwerbsarbeit macht gerade seine Attraktivität aus. Jeder tut, was ihm passt. In Zukunft wird man dem Ehrenamt jedoch ein leichtes Korsett anpassen müssen, um die Ehrenämtler vorsichtig zu gesellschaftlich sinnvollen Einsätzen zu führen. Dort können sie gezielt jene Lücken ausfüllen, die sie selbst verursacht und hinterlassen haben.
Das Ehrenamt wird dann zu einem gemeinnützigen Wirtschaftsraum von erheblichen Ausmaß werden. Der Markt und seine Gesetze werden dort keine Rolle mehr spielen. Es wird stattdessen die Assoziation freier Produzenten herrschen. Das Geld wird in diesem System seine Funktion verlieren und durch den direkten Warenaustausch ersetzt werden: Handgriffe gegen Dankbarkeit, Nudeln kochen gegen Gesprächsbereitschaft, Vorlesen gegen weisen Rat, Gesellschaft gegen ein tiefes Lächeln.
Am langen Ende ihres Lebens würde meine Generation damit überraschend ein Stück jener Utopie in die Tat umsetzen, für die sie vor einem halben Jahrhundert Demonstrationen organisiert, Flugblätter verteilt und kurzlebige Parteien gegründet hatte.
Vom Bedürfnis nach Gewissheit
»Wir sind Bettler. Das ist wahr.«
MARTIN LUTHER AUF DEM TOTENBETT
Drei Wochen nachdem ich in den »Rosenpark« eingezogen war, saß ich am Bett von Hedwig Härtel. Sie lag im Sterben. Ich hielt ihre leichte, trockene Hand, die kaum den Plastikbecher halten konnte, welchen man ihr in regelmäßigen Abständen anbot, mit der freundlichen Aufforderung, doch ein wenig Flüssigkeit zu sich zu nehmen – ein Ansinnen, das sie jedes Mal ebenso freundlich wie entschlossen zurückwies. Ihr Gesicht, das früher einmal voll und heiter gewesen war, wie ich von alten Bildern her wusste, blickte eingefallen und grau aus den weißen Kissen zu mir empor.
Ob sie Angst vor dem Tod habe?
Sie schaute mich mit den großen, ruhigen Augen einer Sterbenden, der bereits alles Überflüssige aus den Gesichtszügen gewichen war, an.
»Ich geh zum Heiland, warum sollte ich Angst haben?«
Da sei sie gewiss?
Da war sie sich ganz gewiss.
Achtundvierzig Stunden später war Hedwig tot. Am folgenden Tag traf ich ihren Mann auf einem der langen, dunklen Flure. Seine Augen waren rot und geschwollen. Ich kondolierte. Er nickte freundlich.
»Jetzt schaut die Hedwig auf uns herunter.«
Hilflos wünschte ich ihm Gesundheit und ein langes Leben.
»Ich freu mich auf den Tag, an dem wir wieder zusammen sind«, unterbrach er mich.
Und damit sei fest zu rechnen?
»Wissen Sie etwas Besseres?«
Nein, das wusste ich nicht, und wir gingen auseinander.
Ganz anders meine Mutter, als sie hochbetagt zum Sterben kam. Kirchen waren ihr zeitlebens ausschließlich Gegenstand kunsthistorischer Neugierde gewesen. Sie hatte über Fresken in den Gotteshäusern Norditaliens gearbeitet und auch später auf unseren gemeinsamen Reisen kein Chorgestühl und keine Apsis ausgelassen. Aber sie konnte nicht glauben und tat das mit ruhiger, unreflektierter Klarheit ein langes Leben hindurch. Auch sie hatte Gewissheit: die Überzeugung nämlich, dass es keinen Gott gebe und dass es nicht lohne, darüber nachzudenken. So wie es töricht sei, jeden Tag aufs Neue zu überlegen, ob die Sonne im Osten aufgehen würde.
Ihr Leben hatte eine Reihe unerwarteter Wendungen erfahren. Als Tochter aus gutem Milieu war sie dazu erzogen worden, in standesgemäßer Ehe einer vielköpfigen Familie vorzustehen. Schließlich zog sie ohne Aussicht auf neuerliche Heirat als berufstätige Witwe in mittlerer Position zwei Kinder groß. Das hatte sie gelehrt, das Leben hinzunehmen, Gefühle für sich zu behalten und jeden Tag diszipliniert anzugehen.
Die letzten Monate ihrer Erdentage verbrachte sie im Rollstuhl. Wenn ich sie besuchte und das Wetter es erlaubte, schob ich sie über die Mittagsstunden in einen nahe gelegenen Park.
Eines Tages, sie saß warm in Decken gehüllt unter mir, bäumte sie sich kurz auf, fiel wieder in sich zusammen und verharrte zitternd in dieser Position. Ich hielt an und lief mit zwei Schritten um den Rollstuhl herum. Sie sah mich blass und mit großen, erschrockenen Augen an.
Was ihr sei.
»Ich habe Angst«
»Angst? Wovor?«
»Mir graut.«
Meine Mutter, die über viele Jahrzehnte diszipliniert ein Leben geführt hatte, für das sie nicht geboren war, wurde hilflos von
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