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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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Angst und Hoffnungslosigkeit überwältigt.
    Ob sie solche Anfälle öfter habe.
    Sie nickte. »Immer häufiger.«
    Als sie starb, war ich beruflich unterwegs.
    »Ihre Mutter hat gekämpft und ist schwer gegangen«, berichtete mir Schwester Barbara, die in jener Nacht Dienst gehabt hatte.
    Ob man jene Gewissheit, die beim Sterben so nützlichen Dienst erweist, auch noch im Alter erwerben könne, wollte ich später vom Geistlichen einer nahe gelegenen Kirche wissen.
    »Junger Mann, wo denken Sie hin!«, klärte der mich freundlich auf. »Sechs Jahrzehnte Luzifer und im siebten die Gnade des Herrn? So läuft das bei uns nicht.«
    Das mag zwar nicht ganz dem Geist der Verkündigung entsprechen, weist aber auf ein psychologisches Problem hin: Tiefe Überzeugungen müssen lange gelebt worden sein, bevor sie ihre Wirkung entfalten. Sie sind nicht folgsam wie Glühbirnen. Was nicht ausschließt, dass der Herr in seiner Gnade Ausnahmen macht.
    Die Gegenwärtigkeit von Sterben und Tod gehört zum Altern wie Falten und Vergesslichkeit. Irgendwann und anfänglich nur zu besonderen Anlässen beginnen die Gedanken um dieses endgültige Thema zu kreisen, bis es sich fest im Bewusstsein eingenistet hat. Der eigene Verfall und der Verlust von Freunden, Familienangehörigen und Verwandten führt den Alten in immer dichterer Abfolge die eigene Vergänglichkeit vor Augen und gibt dem Thema keine Ruhe mehr. Man wird jeden Tag aufs Neue zum Überlebenden, dessen Existenz durch den Tod anderer definiert ist. Freilich, Verzweiflung ist im Allgemeinen ein Gefühl für besondere Anlässe, auf Dauer könnten wir mit ihm nicht leben. Das ständige Wissen um die Vergänglichkeit richtet sich deshalb bei vielen Alten recht häuslich und kommod im Bewusstsein ein.
    Im Leben meiner Generation spielte Religion eine unvergleichlich geringere Rolle als bei den Vorfahren. Dreißig Prozent der Deutschen gehören keiner Konfession mehr an. Unter denjenigen, die noch Kirchensteuer zahlen, sind die Leichtgläubigen in der Mehrheit. Zur Weihnachtszeit und an Ostern sind die Kirchen noch immer gut besucht, aber Gottvertrauen hat sich dort verflüchtigt, wo es wirken sollte: im Alltag. Wir danken dem himmlischen Vater nicht mehr für das tägliche Brot. Wir bitten ihn nicht mehr um Beistand bei den kleinen und großen Fährnissen. Er ist uns fremd geworden. Wir zweifeln an seiner Allmacht und halten Gebete für sinnlos. Angesichts des Elends auf der Welt erscheint uns seine Schöpfung missraten. Die Zuversicht auf seine Existenz ist der unverbindlichen Überzeugung gewichen, dass irgendwas schon sei.
    Unser Gott, der mit dem Christentum nur noch den Namen gemein hat, führt ein friedliches Dasein im Irgendwo. Weder fürchten wir ihn, noch erwarten wir Trost von ihm. Er ist konturenlos, lässt uns in Ruhe und stellt keine Ansprüche. So lässt es sich trefflich glauben.
    Jener Restglaube, der vielen von uns geblieben ist, erklärt das Unerklärliche der Schöpfung und ist eher Ausdruck gedanklicher Unentschlossenheit als der tiefer Überzeugung. Wir leben vorläufig auf diese Weise bequem in transzendentaler Obdachlosigkeit und betreten unsere siebte Dekade ohne den Schutz, den Glaube bieten kann. Wir sind die erste Generation, die zwar nichts von der Sterblichkeit versteht, ihr aber auch nicht entkommen wird.
    Der amerikanische Soziologe C. Wright Mills, ein scharfsinniger Analyst aus den frühen Jahren meiner Generation, hat vor einem halben Jahrhundert festgestellt: »Es ist abzusehen, dass das Heilige bald ganz verschwunden sein wird.« Vierzig Jahre später kommen junge Religionssoziologen zum entgegengesetzten Ergebnis: »Nach beinahe drei Jahrhunderten großartig gescheiterter Prognosen und irreführender Einschätzungen der Vergangenheit und Zukunft ist es nun an der Zeit, die Säkularisierungsthese auf dem Friedhof der falschen Theorien zu begraben.« In einer aktuellen Veröffentlichung über mutmaßliche Entwicklungen bis zum Jahr 2030 heißt es ganz ähnlich: »Die Menschen werden nach Sinnorientierung verlangen, die Halt, Beständigkeit und auch Wesentliches in das Leben bringt. Religiosität als Lebensgefühl ist dann wieder gefragt«, und an anderer Stelle: »Wir stehen vor einer Renaissance des Glaubens. Die Frage ist nur, welcher Religion die Menschen den Vorzug geben werden.«
    Die Ursachen der neuerlichen Glaubensnähe werden in der Leere des Konsums, der Individualisierung, der Orientierungslosigkeit des Menschen in einer haltlosen

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