Altern Wie Ein Gentleman
Gesellschaft und einem weit verbreiteten Nihilismus verortet. Das sind Werkzeuge aus dem Fundus einer Kulturkritik, die auch meiner Generation nicht fremd ist. Das gegenwärtige Interesse an Jenseitigkeit und Transzendenz wäre in diesem Zusammenhang eine Sozialtechnik, die dazu dienen soll, im warmen Schoß der Gewissheit Zuflucht zu finden, um der eigenen Endlichkeit gefasster gegenüberzutreten.
Wahrer Glaube ist jedoch in der Überzeugung von der voraussetzungslosen Existenz Gottes begründet, oder er ist nicht. Ein Glaube, der der Bewältigung aktueller Sinnfragen dienen soll, wird auf Dauer keinen Bestand haben können und in Beliebigkeit aufgehen. Er wäre dann tatsächlich das »Opium des Volkes«. Das Verlangen nach Transzendenz ist kein menschliches Bedürfnis neben anderen, sondern ausschließlich in der Allgegenwart Gottes begründet. Freilich wir sind frei, und jeder Einzelne ist gefordert, sich zu entscheiden.
Ich wüsste heute gerne, wann und warum mir der Glaube abhanden gekommen ist. Meine Kindheit habe ich bei entfernten Verwandten in katholischem Milieu im Badischen verbracht. Dort waren das Christentum, seine Feste und Gebräuche, der Dank und die Bitte im Gebet, das strenge Verbot zu fluchen, die Mildtätigkeit und der sonntägliche Kirchgang Bestandteile des täglichen Lebens. Der Glaube war einfach da wie die Kirschbäume hinter dem Haus und die Schafe auf der Weide.
Irgendwann als Halbwüchsiger ist er mir verloren gegangen. Ich kann mich nicht entsinnen, um ihn gerungen zu haben. Es gab auch kein eindrucksvolles Vorbild, das ihn mir ausgetrieben hätte. Ich habe nachts nie wach gelegen und gegrübelt. Die kritischen Schriften der Aufklärung habe ich erst sehr viel später gelesen. Selbst die oft abstoßende Kirchengeschichte hat keine Rolle gespielt. Der Glaube war einfach weg, wie ein Paar billiger Handschuhe, die man in der Straßenbahn liegen lässt und schnell vergisst. Ich habe ihn seither nie vermisst, nie wieder über ihn nachgedacht und sehr selten über ihn geredet. In dem Sinne bin ich eher Agnostiker als wetterfester Atheist. Seltsam, wie einem dieses Kernstück mitteleuropäischer Identität, um dessentwegen so viel Blut vergossen wurde, einfach verloren gehen kann.
»Nein, ich glaube nicht mehr«, erklärte mir nüchtern ein Freund, der wie ich im christlichen Milieu aufgewachsen und voller Überzeugung jeden Samstag zur Beichte gegangen war, um sonntags reinen Gewissens an der Kommunion teilnehmen zu können. »Kirche und Glaube waren für mich Autoritäten wie Schule und Elternhaus. Nachdem ich von dort aufgebrochen war, habe ich sie, wie auch den Glauben, ohne Bedauern hinter mir gelassen. Er blieb einfach zurück, wie eine alte Hose, die zu eng geworden war.«
Ob er etwas vermisse?
»Was?«
»Na, das Jenseits.«
»Wie kann ich etwas vermissen, das es nicht gibt?«
So einfach ist das.
Leichtgläubige oder Agnostiker, denen auf der letzten Lebensstrecke bange wird, könnten versucht sein, ihre Glaubensreste zu reaktivieren, um der Furcht Herr zu werden. Das wird nicht einfach. Die gutgläubige Naivität der Kindheit, die vieles fraglos aufgenommen und in sich geborgen hatte, ist dem Erwachsenen für immer verloren. Nachvollziehbare Gottesbeweise im Sinne wissenschaftlicher Argumentation gibt es nicht. Vernunft und Rationalität, die zuverlässigen Begleiter durch unser bisheriges Leben, sind mithin untaugliche Mittel, den Schöpfer zu erfahren. Bleibt der Wille, der mit zunehmender Lebensdauer jedoch an Kraft verliert, ebenso wie die andere große Energie zur Veränderung, der Zweifel, für dessen Ausformulierung und Überwindung im Alter jedoch kaum mehr Zeit bleibt. Und schließlich die Furcht vor dem Ende und dem Unbekannten. Dem setzen sich alte Menschen jedoch nur ungern auf Dauer aus und ziehen die Verdrängung der Einsicht vor.
Ich habe trotzdem zögerlich begonnen, mich auf die Suche nach Spuren und Resten jener Gewissheit zu machen, die mir einst so selbstverständlich gewesen war. Ich stelle mir dabei eine alte, verstaube Lampe vor, die irgendwo in mir vergessen wurde und nach sorgfältiger Reinigung wieder entzündet werden kann.
Jüngst bin ich mit einem ehemaligen Kommilitonen, dem Torwart einer Fußballmannschaft, in der ich vor langer Zeit mitspielen durfte, ins Gespräch gekommen. Er hatte, sehr zu unserem Unverständnis, Theologie studiert. Nachdem wir kurz unsere Vergangenheit aufgearbeitet hatten, erzählte ich ihm von meinen derzeitigen
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