Altern Wie Ein Gentleman
Sozialen.
Ihr Medium ist das Gespräch in allen seinen Formen: als Mitteilung, Gedankenaustausch, Geständnis oder Anvertrauen. Zum Gespräch gehört gleichermaßen die Fähigkeit zur intimen Stille des Schweigens. »Einen guten Freund erkennst du daran, dass du mit ihm schweigen kannst, ohne das Gefühl, reden zu müssen«, heißt es bei dem französischen Moralisten Vauvenargues. Freundschaft ist in der Lage, Einsamkeit selbst über räumliche Distanz aufzuheben. Sie ist die ständige Nähe eines Menschen, auch ohne dessen körperliche Nähe. Freundschaften sind kostbarstes Gut, das ein Leben lang gepflegt sein will und erst über lange Dauer jene Unbeirrbarkeit entwickelt, auf die dann eines Tages und in schweren Zeiten Verlass sein wird. Zu ihrem Fundament gehören gemeinsame Erfahrungen, geteilte Geheimnisse und eine Vertrautheit, die rückhaltlose Intimität erlaubt.
Wann aus einer Bekanntschaft Freundschaft wird, wissen nur diejenigen, zwischen denen sich dieser Prozess abgespielt hat. Man muss sich gegenseitig abrichten, sich einander anpassen und die Grenzen sorgfältig abstecken, so wie der Fuchs dies vom kleinen Prinzen erbittet: »Wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzig sein in der Welt. Ich werde für dich einzig sein in der Welt. Wenn du einen Freund willst, so zähme mich.«
Das kann dauern. Aristoteles spricht von einem Scheffel Salz, etwa fünfunddreißig Kilo, der gemeinsam verzehrt sein will, bis eine Freundschaft entstanden ist. In allen Schriften zum Thema wird stets auf die beschränkte Anzahl von Freundschaften hingewiesen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens eingehen kann. Es scheint eine natürliche Grenze zu geben, was an dem hohen zeitlichen und emotionalen Aufwand liegen mag, den echte Freundschaft verlangt. Von einer Handvoll ist durchgängig die Rede.
In dem Maß, wie die Gesellschaft den Einzelnen aus verbindlichen Zusammenhängen wie Stand, Glaube, Zunft und Familie entlässt und ihn auffordert, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wächst die Bedeutsamkeit von Freundschaften. Sie werden gezwungen, Aufgaben zu schultern, die »andere Institutionen schlecht, unzureichend oder gar nicht mehr übernehmen können«, wie es in einer soziologischen Untersuchung zum Thema heißt.
Es ist daher an der Zeit, Inventur zu machen und den Bestand an sozialen Beziehungen sorgfältig zu überprüfen. Wo bestehen tiefere Gemeinsamkeiten, die über jene hinausgehen, die wir als Bekanntschaften bezeichnen? Wem würde ich mich anvertrauen? An wen darf ich mich in der Not wenden? Wen nehme ich mit auf die letzte, lange, häufig beschwerliche Strecke? Vor wem würde ich mich nicht schämen, wenn mein Körper seine Hülle verlässt und unschön nach außen tritt, die Körperflüssigkeiten ein lästiges Eigenleben entwickeln und das Gedächtnis seinen Dienst versagt? Man gehört im Alter gelegentlich nicht mehr sich selbst, sondern einer entfesselten Natur, der man sich gemeinsam besser erwehren kann, denn am Körper finden im Kleinen jene Katastrophen statt, über die im Weltmaßstab täglich die Medien berichten.
Neue Freundschaften, die einen langen Vorlauf brauchen, um schließlich jene Vertrautheit zu bewirken, die sie von der Be-
kanntschaft unterscheidet, werden mit zunehmendem Alter zur seltenen Ausnahme. Die Zeit wird knapp. Die Menschen werden unbeweglicher. Sie öffnen sich nur ungern und scheuen neue Nähe. Die Bereitschaft zu Toleranz und Auseinandersetzung mit anderen Vorstellungen, die zwingend zur Freundschaft gehören, nimmt ab, während die eigenen Standpunkte erstarren. Zudem verlieren alte Menschen häufig jene Eigenschaften, die sie einst als Freunde attraktiv gemacht hatten: Ansehen, Aussehen und Status.
»Man darf nicht darauf hoffen, dass sich in den älteren Jahren noch stabile Freundschaften herausbilden«, bestätigt einemoderne Autorin die illusionslose Einsicht des französischenMoralisten Nicolas Chamfort: »Die neuen Freunde, die wir im reifen Alter finden und mit denen wir die verlorenen zu ersetzen suchen, verhalten sich zu unseren alten Freunden wie Glasau-
gen und künstliche Zähne zu wirklichen Augen und natürlichen Zähnen.«
Unterhalb der Freundschaft und der Ehe liegt auf dem Kontinuum der sozialen Beziehungen die Bekanntschaft. Sie ist unverbindlicher, weniger intim und gefühlsfreier, aber unerlässlich für den Alltagsgebrauch. Sie ist das soziale Unterfutter, mit dem wir täglich durch das Leben gehen. Sie
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