Altern Wie Ein Gentleman
Verzweiflung, die keine erkennbaren Ursachen hat. Sie nistet sich in Verstand und Seele ein und entwickelt dort ein unerbittliches Eigenleben. Sie drängt nicht zum Tod wie ihre dunkle Schwester, die Depression, sondern wird als schwere, hoffnungslose Bürde zur ständigen Begleiterin.
Eine aktuelle Zusammenfassung von Untersuchungen zum Thema kommt folgerichtig zu dem Ergebnis: »Die wichtigste Voraussetzung für ein gelungenes Alter ist ein belastbares Netz sozialer Beziehungen.« Alte Menschen, die in verbindlichen sozialen Beziehungen leben, sind zufriedener, werden älter und bewältigen die unerfreulichen Begleiterscheinungen des Alters besser als ihre vereinsamten Zeitgenossen. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um die eigene Familie, ferne Verwandte oder Freunde handelt. Die Beziehungen müssen nur verlässlich, stabil, belastbar und von Dauer sein. Sport, Gesundheit, sinnvolle Tätigkeit oder sichere Einkünfte spielen eine gewichtige Rolle, aber ohne warme, solidarische Beziehungen zu anderen Menschen bleibt ihre Wirkung begrenzt.
Die aufgeregte aktuelle Diskussion und die Veröffentlichungen zum Thema Alter haben deswegen trotz unterschiedlicher Formen und Erzählweisen recht besehen nur ein Thema: das der Einsamkeit. Zwar gab es auch früher beziehungslose Individuen, aber deren unwirtliche Erdentage waren Einzelschicksale. Heute indes befürchtet ein Teil meiner Generation, im Alter zu vereinsamen. Uns droht trotz sicherem Dach über dem Kopf die existenzielle Obdachlosigkeit.
Aus der breiten familiären Basis vergangener Tage, über der jeder Einzelne wie ein Christstern auf der Weihnachtstanne thronte und unter Geschwistern, Vettern und Cousinen, Onkeln und Tanten, Neffen, Nichten und angeheirateten Familienmitgliedern eine reiche kommunikative Auswahl hatte, ist ein dünner Stamm mit spärlichen Trieben geworden. Die Deformationen der gesellschaftlichen Alterspyramide spiegeln sich mit ähnlichen Konsequenzen auch im Verwandtschaftsgefüge jedes Einzelnen wider. Mit der Sippschaft verschwinden die familiären Festlichkeiten wieTaufe und Geburtstag, Verlobung und Vermählung, Firmung und Beerdigung. Sie hatten einst die Generationen auch aus fernen Winkeln regelmäßig vereint und den sozialen Zusammenhang über die Zeit gefestigt und erneuert.
Wer in der zweiten Generation Einzelkind gewesen ist, wird keine Tanten und Onkel, keinen Schwager und keine Schwägerin mehr haben. Damit verringert sich die Chance, innerhalb der engeren Verwandtschaft jene Beziehungen aufzubauen, die freundschaftlichen Charakter haben und im Alter guten Dienst leisten können. Die gemeinsame Familiengeschichte ist zwar eine gute Ausgangsbasis für verlässliche Kontakte, aber es gilt auch die Einsicht von Karl Kraus: »Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit.«
Im Gebiet der früheren Bundesrepublik erhöhte sich die Zahl der Einpersonenhaushalte zwischen 1972 und 2000 von sechs auf mehr als elf Millionen. Und ein statistischer Vorgriff auf das Jahr 2030 stellt fest, ihre Zahl werde in »nie gekanntem Ausmaß« weiter steigen.
Für die Mehrzahl der Frauen im hohen Alter ist die Einzelexistenz bereits heute zwangsläufiges Schicksal. Im Durchschnitt leben sie sieben Jahre länger als ihre Männer, die gewöhnlich sieben Jahre älter sind, so dass die Frauen vierzehn Jahre nach ihnen sterben. Nachdem sie als Mutter, Erzieherin, Ernährerin und Haushaltsvorstand ihre Pflichten erfüllt und schließlich noch den Mann zu Tode gepflegt haben, bleiben sie mehr als ein Jahrzehnt allein zurück.
Meine Mutter hatte meinen sehr viel älteren Vater um fünfzig Jahre überlebt. Vor ihrer Pensionierung war sie im diplomatischen Dienst gewesen. Als Presseattachée in Washington und Paris gab sie regelmäßig gesetzte Diners für zwölf Gäste. Nach meiner Erinnerung war sie eine aufmerksame Gastgeberin, die zu plaudern wie zu räsonieren verstand. Ihre Interessen waren so weit gefächert, dass es ihr leicht fiel, sich auf die Themen ihrer Gesprächspartner einzulassen, ohne unterwürfig zu wirken. Sie lebte zwar sorglos im Kreis zahlreicher, kultivierter Bekannter, doch die Kontakte blieben oberflächlich und an ihren Beruf gebunden. Sie hatte es versäumt, in guten Zeiten vorzusorgen, und die zahlreichen Bekanntschaften, die ihr durch ihre Stellung zufielen, mit dauerhafter Freundschaft verwechselt. Nun, im Alter, war es zu spät, das nachzuholen. Außerhalb der verlässlichen, geschmeidigen Bahnen wirkte sie
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