Altern Wie Ein Gentleman
Verlässlichkeiten. Die Straße öffnet sich für Neuankömmlinge. Nach und nach entsteht ein soziales Terrain, das sich unabhängig von Umzügen erhält. Freunde wird man als »Vierziger« hier schwerlich finden, aber Bekannte als Ersatz für die verlorenen Arbeitskollegen allemal.
Um die zahlreichen alten und neuen Chancen und Strategien gegen die Einsamkeit effektiv zu nutzen, muss jedoch ein ernstes Hindernis aus dem Weg geräumt werden: die Scheu der Alten vor ihresgleichen, denn sie sind deren gnadenloseste Kritiker. Keiner redet so schlecht über die Alten wie die Alten.
Neulich berichtete ein Golfpartner während einer gemächlichen Runde von einer Bahnreise von Berlin nach Nürnberg. Der Zug sei voll gewesen. Gottlob habe er eine Platzkarte gehabt, welche ihn jedoch inmitten einer fröhlich lärmenden Schar Gleichaltriger platziert hätte, die, Schaumwein trinkend, nach Nürnberg zum Weihnachtsmarkt unterwegs waren. Peinlich sei es gewesen, und geschämt habe er sich. Auf jeden Fall wollte er mit diesen Alten nichts zu tun haben.
Mir sind solche Gruppen, die man zu jeder Zeit in jedem Großraumwagen antrifft, immer sympathisch gewesen. Gelegentlich würde ich mich ihnen gerne anschließen, aber sie scheinen keinen Wert auf spontanen Zuzug zu legen. Sie haben den Ernst des Alterns begriffen, davon bin ich überzeugt, und feiern trotzdem heiter miteinander. Sie beherrschen den unaufhörlichen Redefluss. Keinen Augenblick auf einer vierstündigen Bahnfahrt herrscht Stille. Fortwährend erzählen sie Geschichten aus einer gemeinsamen Vergangenheit, ständig unterbrochen durch Lachen, Zwischenrufe oder den Versuch, eine eigene Anekdote loszuwerden. Die Geschichten scheinen allesamt neu und unbekannt zu sein, denn am Ende gibt es stets großes Hallo und gemeinsames Gelächter, bis zur nächsten Anekdote, die nicht lange auf sich warten lässt.
Man könnte neidisch werden ob der Vielfalt der Erlebnisse. Der eigene Anekdotenschatz wäre wahrscheinlich nach einer Stunde aufgezehrt. Natürlich sind die Geschichten bekannt und häufig vorgetragen worden, aber die fröhlichen Mitreisenden haben begriffen, dass mehr nicht kommen wird, und geben sich klug mit dem zufrieden, was ihnen geblieben ist.
Einige Wochen nachdem der Film über den »Rosenpark« gelaufen war, traf ich zufällig einen ehemaligen Vorgesetzten. Dem hatte der Film gefallen und die Idee des betreuten Wohnens eingeleuchtet. Gemeinsam mit seiner Frau besuchten die beiden in der Folgezeit einige Heime. Da ihr Konto mit üppiger Rente und regelmäßigen, gut bezahlten Nebeneinkünften gut gefüllt ist, sahen sie sich ausschließlich in Einrichtungen für Gutbetuchte um.
Das sei alles sehr attraktiv gewesen, berichtete er mir damals. Die Apartments seien hinreichend groß und die Gemeinschaftsräume weitläufig und geschmackvoll eingerichtet gewesen. Zudem würden regelmäßig kulturelle Veranstaltungen angeboten. Auch für körperliche Ertüchtigung gebe es angemessenen Raum. Er habe Kontakt mit einigen Bewohnern gehabt, mit denen er sich durchaus vorstellen könne, die Abende zu verbringen.
Ob er nun in eine Einrichtung für betreutes Wohnen einziehen würde, wollte ich nach dieser erschöpfenden Liste von Vorzügen wissen.
»Weißt du, Junge«, damit war ich gemeint, »jedes Mal, wenn wir ein Heim verlassen hatten und wieder auf der Straße standen, sagte meine Frau: ›Hast du es bemerkt? Lauter alte Leute!‹ Nein, wir konnten uns nicht dazu entschließen einzuziehen.«
Aus altem Respekt unterließ ich den Hinweis, dass sie doch selbst alte Leutchen seien. Die beiden wohnen nach wie vor weit vor den Toren der Stadt. Hin und wieder kommen die beiden Söhne vorbei. Ansonsten lässt sich selten jemand blicken.
Mit dieser seltsamen Furcht vor Heimen und anderen Alten sind die beiden indes nicht allein. Sie ist im Gegenteil eine wesentliche Grundlage unseres Umgangs mit alten Menschen. Gemeinsam mit der Ideologie vom Altern in den eigenen vier Wänden und der Ökonomie des Pflegedienstes hat sie ungezählte alte Menschen in ein Ghetto völliger Vereinsamung getrieben. Jenseits abgeklärter Ehen, tiefer Freundschaften und unterhaltsamer Bekannter führen sie hinter den schmucklosen Fassaden der Mietshäuser aus den fünfziger und sechziger Jahren ein Leben ohne jede Geselligkeit. Es sind dies unsere Eltern und Großeltern, deren unwirtliche und erbarmungswürdige Existenzen von einem Pflegedienst verwaltet werden, der zu einem bedeutenden
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