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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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Wirtschaftszweig geworden ist.
    Sabine Schley ist eine energische Frau von Anfang fünfzig. Vor vier Jahren hat sie ein Pflegedienstunternehmen gegründet. Seither fährt sie mit ihrem Kleinwagen täglich acht Stunden kreuz und quer durch Berlin und betreut bis auf wenige Ausnahmen alte Frauen.
    »Die nächste Kundin lebt seit acht Jahren allein«, erklärt sie kurz, während wir die drei Stockwerke zu Frau Senft hochsteigen. Frau Schley klingelt. Im selben Augenblick öffnet sich die Tür.
    »Da sind Sie ja«, werden wir freundlich von Frau Senft, die offensichtlich hinter der Wohnungstür auf uns gewartet hat, empfangen. Sie fährt mit ihrem Rollstuhl ein wenig zurück. »Wer ist der junge Mann?«
    »Der hilft mir!«
    Ich stelle mich vor, und wir treten in die Wohnung ein.
    »Ich habe Ihnen die Post mitgebracht.« Frau Schley legt einen Stapel Reklame auf den Küchentisch. »Die Hausgemeinschaft hatte zwar beschlossen, Reklamesendungen grundsätzlich zu verbieten. Aber dann würde unsere Frau Senft überhaupt keine Post mehr bekommen«, erklärt sie mir. »Jetzt machen wir eine Ausnahme bei ihr. Nicht wahr, Frau Senft?«
    Die nickt dankbar.
    Frau Senft hatte nach dem Krieg mit bloßen Händen beim Wiederaufbau geholfen. Sie hat zwei Töchtern das Leben geschenkt und ihnen eine anständige Ausbildung ermöglicht. Später hat sie ihren kranken Mann bis zu dessen frühem Tod gepflegt. Den Nachkommen hat sie eine intakte, schuldenfreie Welt hinterlassen. Frau Senft hat ihre Pflicht getan. Heute lebt sie von einer bescheidenen Witwenrente. Selbst wenn sie noch besser auf den Beinen wäre, um selbstständig die nahe gelegene Einkaufspassage zu erreichen – sie könnte sich keinen Kaffee und kein belegtes Brötchen leisten.
    Frau Senft bleibt, mit Ausnahme der beiden kurzen Besuche des Pflegedienstes, den Tag über allein. Sie kann sich mit klei-
nen, unsicheren Schritten zwischen den vier Wänden ihrer Wohnung bewegen. Für Ausflüge nach draußen ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. Da es im Haus keinen Fahrstuhl gibt, liegt der letzte Ausflug an die frische Luft bereits Monate zurück. Damals holte sie ein privater Hilfsdienst zu einer ärztlichen Untersuchung ab.
    Frau Senft ist völlig vereinsamt. Ihre beiden Töchter leben vier Autostunden entfernt im Südwesten der Republik. Ihren einzigen Enkel, einen Knaben im Vorschulalter, sieht sie einmal im Jahr zur Vorweihnachtszeit. Ihre alten Freundinnen vom Kirchenchor gehen ebenfalls schwer und schaffen die drei Treppen nicht mehr. Besuch hat sie schon lange nicht mehr gehabt. »Dabei besitze ich ein sechsteiliges Zwiebelmustergeschirr von Hutschenreuther«, wie sie uns glaubhaft versichert.
    Ihre Nachbarn sind junge Leute, die freundlich grüßen und ansonsten ihrer Wege gehen. Tagsüber studiert Frau Senft sorgfältig die Sonderangebote in den Reklamen, obwohl sie nie wieder ein Geschäft betreten wird. Ansonsten schaut sie von früh bis spät fern.
    Die Gesellschaft hat Frau Senft nie viel gegeben, aber stets viel von ihr genommen. Im Alter nimmt man ihr nun das Letzte, was ihr noch geblieben ist: die Sprache. Zum Sprechen ist man auf Gesprächspartner angewiesen, und die hat Frau Senft nicht mehr. Seither schweigt sie oder hält in der Einsamkeit ihrer Dreizimmerwohnung lange Selbstgespräche. Wir wissen es nicht. Frau Senft will auf keinen Fall in ein Altenheim.
    »Dort sind nur Demenzkranke«, wehrt sie ängstlich ab, »so weit bin ich doch noch nicht!«
    Der Pflegedienst wird zwar sehnlichst erwartet, aber die geschäftige Beziehung und die routinierten Sprachfetzen können die Einsamkeit nicht aufheben. Im Gegenteil: Sie wird noch unerträglicher, nachdem die Tür ins Schloss gefallen ist und das Ticken der Uhr, das Tropfen des Wasserhahns im Bad und das Summen des Eisschranks sich in der Stille zurückgemeldet haben.
    »Wie geht es uns heute?«, fragt Frau Schley munter, ohne eine Antwort zu erwarten. »Ich sehe, bei Ihnen gibt es Kartoffelsuppe! Da möchte man gerne mitessen«, fährt sie fort, »aber ich muss bald weiter. Andere warten auch auf mich. – Haben Sie Ihre Medizin genommen? Ich weiß, Sie machen keine Probleme, aber Nachfragen kostet ja nichts. – Von wem sind die Blumen? – Sie haben keine Milch mehr. Ach, die vertragen Sie ja nicht.«
    So geht das, begleitet von routinierten Handgriffen, zwanzig betriebsame Minuten lang, bis die Arbeit getan und der Besuch beendet ist. Frau Senft hat die ganze Zeit über geschwiegen und unser Tun mit

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