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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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plötzlich hilflos wie ein Albatros zu Land. Nach einigen missglückten Anläufen, neue Beziehungen zu knüpfen, gab sie ihre Bemühungen auf und blieb selbst im Altenheim allein zurück.
    »Kennst du eigentlich die Nachbarn, die rechts und links von dir wohnen?«, fragte ich sie eines Abends, als mir aufgefallen war, wie einsam es um sie geworden war.
    »Nein.«
    »Wieso nicht? Hast du dich nie vorgestellt?«
    »Nein.«
    »Und warum nicht?«
    »So was tun wir hier nicht.«
    »Was heißt: so was?«
    »Ja! Tun wir nicht!«
    »Spielst du noch Bridge?«
    Meine Mutter war begeisterte Bridgespielerin gewesen, fest davon überzeugt, dass es einiger Intelligenz bedurfte, dieses Spiel zu beherrschen. Die Damen mit den alten Namen und guten Manieren, die einst in ihrem Bridgezirkel zusammensaßen, waren allerdings kein zwingender Beweis für diese Überzeugung gewesen.
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Du wolltest doch eine Bridgerunde gründen. Hier lebt ein Haufen alter Weiber aus besseren Kreisen, da werden sich doch drei finden lassen, die das Spiel kennen!«
    »Mag sein.«
    »Und?«
    »So was tun wir hier nicht.«
    »Wieso?«
    »Nein, tun wir nicht.« Meine Mutter wurde wortkarg.
    »Was macht ihr denn?«
    »Nichts.«
    »Bekommst du Besuch?«
    »Nein!«
    »Hättest du gerne Besuch?«
    »Ja!«
    »Aber?«
    »Das ist nun nicht mehr.«
    »Dann trinkst du deinen Wein jeden Abend mutterseelenallein?«
    »Ja.«
    Sie wandte sich dem Abendbrot zu, das eine Mitarbeiterin des Hauses, die kein Wort Deutsch sprach oder verstand, gebracht hatte. Es bestand aus zwei Scheiben Brot, einer fingergroßen Streichwurst, einer schmalen Ecke Schmelzkäse und einem Glas lauwarmen Kräutertees.
    »Ich schmecke nichts mehr«, beendete sie unser Gespräch.
    Meine Mutter hat im Alter beherrscht und ohne zu klagen einen hohen Preis für ein attraktives, abwechslungsreiches, aber unverbindliches soziales Leben gezahlt. Man habe sich nichts zu sagen, hatte sie anfänglich über ihre Mitbewohner im Heim geklagt. Diese jedoch waren, im Unterschied zu ihr, ständig in Gespräche vertieft. Beim täglichen Mittagessen an Vierertischen wurde eifrig und, wegen der beschädigten Gehöre, laut geredet und erzählt. Nur am Tisch meiner Mutter herrschte Schweigen. Sie wirkte dort wie ein Sandkorn in der Auster. Ihre Tischnachbarn hatten wenig Lust auf ihre kultivierten, aber kalten Themen, und sie war sich zu schade für Enkelgeschichten und Krankheitsberichte.
    Diese hochmütige Distanz, die sie für Stilgefühl hielt und von der sie sich nie mehr trennen sollte, trieb sie in eine soziale Einöde, in der sie fortan allein blieb. Ich habe ihre langen letzten Jahre im Korsett einer versteinerten Disziplin stets mit einer Mischung aus Respekt und der Furcht, mir könne es einst ähnlich ergehen, begleitet.
    Die tauglichste Gesellungsform, um im Alter dem Schicksal meiner Mutter zu entgehen, ist zweifellos eine Ehe oder feste Partnerschaft, die über Jahre hinweg allen Krisen und Streitigkeitenwiderstanden hat. »Was denn Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden« – wer diese alte Einsicht guter Christen ein Leben lang beherzigt hat, der geht gut gerüstet auf die letzte Strecke. Nach den langen, oft turbulenten Ehejahren sind die Schwächen des anderen in das eigene Leben eingearbeitet. Die Anfechtungen von ehedem sind Vergangenheit und werden in den Anekdotenschatz aufgenommen, den jedes alte Ehepaar sorgfältig verwaltet. Dort ruhen sie sicher und sind Teil der gemeinsamen Vergangenheit, von der man in Zukunft einträchtig zehren wird.
    Wer im Rentenalter noch mit dem Partner einer frühen Ehe oder eheähnlichen Beziehung zusammenlebt, wird, von Ausnahmen abgesehen, die freilich mehr werden, zusammenbleiben. Vor dem Paar liegt noch ein langes Leben und ein neuer Lebensab-
schnitt. Eingangs des 20. Jahrhunderts betrug die »nachelterliche Gefährtenschaft« etwa zwei Prozent der Gesamtlebensdauer. Die waren bald vorbei, so dass sich auch unglückliche Ehen hielten. Heute beträgt diese Zeitspanne etwa dreißig Prozent, nicht selten geht es um zwei bis drei Dekaden. Die wollen bewusst in Angriff genommen und geplant sein.
    Die Lebenspartner werden in schneller Abfolge unbekannte Eindrücke, Erfahrungen und Bedrohungen aufnehmen und verarbeiten müssen. Diese Vielfalt beinhaltet neben anderem das Ende einer Karriere, die finanzielle Situation als Rentner, den Verlust von Bekannten und sozialem Status, das ungewohnte tägliche Zusammensein, die

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