Altern Wie Ein Gentleman
deckt eine Vielzahl sozialer Beziehungen ab: vom Kneipier und Arbeitskollegen über die Zeitungsfrau und die Vereinskameraden bis hin zu Kaffeehausbekanntschaften und Freunden von Freunden. Bekanntschaften sind leicht eingegangen, weil emotionale Tiefe und der Anspruch verlässlicher Vertrautheit fehlen und sie rasch und schon aus geringem Anlass wieder aufgegeben werden können. Freunde sind für das Leben zuständig, Bekannte für die Zeit dazwischen.
Auf der Suche nach Bekanntschaften und Freundschaften sollte man sich an einen Brauch erinnern, der einst eine wichtige Rolle im Sozialleben gespielt hat: die Gastfreundschaft. In der Nachkriegszeit ist sie häufig unter die Räder gekommen, und die Rolle des Gastgebers wie auch die des Gastes geriet in Vergessenheit. Die Gründe sind vielfältig: Die Wohnungen waren zu klein, die Hausfrauen berufstätig, und nicht zuletzt kostet Gastfreundschaft Geld und Zeit.
Meine Mutter, die ständig Gäste hatte, beobachtete zu ihren Zeiten unwillig, dass die Frauen junger Diplomaten bei Einladungen ständig in der Küche nachfragten, ob sie helfen könnten, und unglücklich waren, wenn ihnen dies verwehrt wurde. Meine Mutter hielt die gut gemeinte Hilfsbereitschaft für schlechte Manieren.
»Ein Gast hat in meiner Küche nichts verloren«, war sie überzeugt. »Er ist Gast, hat sich als solcher zu benehmen und bei Tisch und in den Gesprächen sein Bestes zu geben. Da mangelt es dann, stattdessen wollen sie Zwiebeln schneiden, Gemüse auftragen und Gläser spülen. Sie halten das für einen wertvollen Beitrag zu einem gelungenen Abend. Gott, zu meiner Zeit!«
»Sie meinen es doch nett!«, versuchte ich sie zu beruhigen.
»Nett«, unterbrach sie mich, »nett reicht nicht. Nett sind wir alle!«
Im Alter wird die Wohnung geräumiger, und die Zeit kommt zurück. Die Kinder sind aus dem Haus und haben Platz gemacht. Gemeinsame Termine sind bald gefunden, weil die mutmaßlichen Gäste ebenfalls Zeit haben. Was also sollte uns davon abhalten, regelmäßig und häufig gemeinsam zu zechen und zu schmausen? Vermutlich Bequemlichkeit und Geiz. Beide sind jedoch schlechte Begleiter durch den Rest des Lebens.
Und schließlich sind die »Vierziger« dabei, eine Form der sozialen Nähe wiederzuentdecken, die in der Anonymität großer Städte achtlos beiseitegelegt worden war: die Nachbarschaft.
Soziale Strukturen sind extrem anpassungsfähig, haben bemerkenswertes Beharrungsvermögen und entwickeln oft grenzenlose Fantasie und Durchsetzungskraft, um auch unter schwierigen Umständen zu überleben. Zwar bestehen sie recht besehen nur aus tradierten Vorschriften und Regeln, die von sich aus keinerlei Aktivitäten entwickeln können. Das übernehmen die beteiligten Individuen, die jedoch häufig um den Erhalt von Institutionen kämpfen, als ob es um ihr Leben ginge.
Institutionen sind die Burgmauern unserer Existenz, ohne sie stünden wir schutzlos auf freiem Feld. Genau besehen kämpfen wir auch nicht um den Erhalt einer bestimmten Einrichtung, sondern um die Aufgaben, die sie in unserem Leben erfüllt. Wir können demzufolge eine Institution aufgeben, wenn eine andere bereitsteht, dieselben Pflichten zu übernehmen.
In diesem Sinn ist die Nachbarschaft als Ersatz für die Familie, die sich als verbindliche Einrichtung langsam zu verabschieden droht, entdeckt worden. Erstaunliche fünfzig Prozent der über Fünfzigjährigen pflegen ein »sehr enges freundschaftliches Verhältnis« zu ihren Nachbarn. Nur vierzehn Prozent lehnen nachbarschaftliche Kontakte ab. Das gilt nicht nur für Dörfer und Kleinstädte, sondern auch für Metropolen, in denen die Menschen angeblich anonym bleiben wollen.
Die Nachbarschaft hat eine ganze Reihe struktureller Vorzüge gegenüber anderen sozialen Feldern. Man kann sie unauffällig in Augenschein nehmen und gegebenenfalls auf Distanz bleiben. Man ist im Quartier vermutlich überwiegend unter sich, denn die Wahl des Wohnorts korrespondiert mit einer Reihe wesentlicher Sozialindikatoren wie Einkommen, Ausbildung und Familienstand. Man nimmt an den kleinen und großen Problemen teil, die gelegentlich auf ein Wohnquartier zukommen und trefflicher Anlass für spontane Unterhaltungen sind.
Man sieht sich, erkennt sich, verleiht dem Erkennen Ausdruck, grüßt sich zum ersten Mal und redet eines Tages miteinander. So entstehen soziale Netzwerke, die ihre Baumeister überdauern. Wo einst ein freundliches und anonymes Nebeneinander war, entstehen neue
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