Altern Wie Ein Gentleman
Platz ihm gegenüber gesetzt hatte. Sie betreibe in einer süddeutschen Kleinstadt einen Coffeeshop. Dort soll er hinter der Theke stehen, Kaffee zubereiten und Muffins verkaufen.
Wer ein erfülltes Leben hinter sich gebracht hat und seinen Verpflichtungen nachgekommen ist, muss verzichten gelernt haben. Musische Interessen wichen langen Arbeitszeiten, sportliche Begeisterung fiel der Kindererziehung zum Opfer und Abenteuerlust dem Strandurlaub. Befreit von Pflicht und Alltag, entsinnt man sich nun der unerfüllten Pläne und beginnt zu überlegen, was andernfalls gewesen wäre. Träume, die über viele Jahr still in uns geruht hatten, erwachen zum Leben und melden Ansprüche für die Zukunft an. Die Fantasie dringt in das zurückliegende Leben ein, bemächtigt sich seiner und gibt ihm nachträglich an entscheidenden Punkten eine neue, unerhörte Richtung.
Man gleicht ab mit dem, was in Wirklichkeit gewesen ist, und fühlt ein lange unterdrücktes Gefühl zurückkehren: die Sehnsucht. Der Verdacht, es seien die versäumten und verschenkten Chancen, die uns ein Leben lang beschäftigen, gewinnt an Gewicht. Da kein Terminkalender der Fantasie Einhalt gebietet, kann sie sich ungestört ausbreiten, unsere Gedankenwelt übernehmen und Begehren und Fernweh in uns wecken. Das ist der Nährboden, auf dem die Vorstellung entsteht, man könne noch einmal neu beginnen und dem vergangenen Leben ein weiteres hinzufügen.
Meine Mitbewohner im »Rosenpark«, durchweg standfeste und entsagungserprobte Frauen und Männer, konnten mit solchen gedanklichen, geschweige denn realen Ausflügen in ein neues Leben wenig anfangen.
»Was meinen Sie damit – neues Leben? Wie soll das gehen? Ich bin froh, wenn ich das hier hinter mir habe.«
»Ich habe genug erlebt, mir reicht es!«
»Was? Nein, bleiben Sie mir damit weg. Das gehört sich nicht!«
Frau Schmitz aus dem sechsten Stock, die neben einer beneidenswerten Musikalität über einen wachen, schonungslosen Verstand verfügte, hatte die Gefahr solcher Pläne sofort durchschaut: »Das hieße ja, ich wäre mit meinem Leben unzufrieden gewesen. Das tu ich mir nicht an.«
Sie alle wussten, ohne darüber nachgedacht zu haben, dass das Alter nicht dazu da ist, jene Lücken auszufüllen, die verpasste Chancen hinterlassen haben.
Die Unterschiede zwischen der Generation unserer Eltern und uns, den »Vierzigern«, werden in der folgenden, eher nebensächlichen soziologischen Beobachtung deutlich. Demnach ließen sich Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts fünfzig Prozent der Alten reichlich Zeit für ihr Mittagessen. Zwei Dekaden später waren es nur noch fünfundzwanzig Prozent. Das klingt wenig spektakulär, aber hinter solch unscheinbaren empirischen Ergebnissen verbergen sich häufig gewichtige Entwicklungslinien.
Offensichtlich hatten unsere Eltern im Alter mehr Zeit, weil sie weniger vorhatten. Die Mahlzeit war ihnen zu wichtigem Genuss geworden, der sorgfältig ausgekostet und gerne in die Länge gezogen wurde. Der Psychoanalyse gilt das Essen als Ausdruck der oralen Phase, eines kindlichen Entwicklungsstadiums, das durch innerkörperliche Bedürfnisse wie Sättigung, Stabilität und Wohlbehagen charakterisiert ist. Dorthin zogen sich unsere Eltern, als Ausdruck ihrer zunehmenden Hilflosigkeit der Umwelt gegenüber, im Alter wieder zurück.
Wer hingegen beim Essen eilt, dem ist die Zeit kostbar. Er hat noch was vor im Leben und etwas zu erledigen. Sein Ziel ist nicht Behaglichkeit und Sicherheit, sondern Wagnis und Tatendrang. Natürlich erfinden wir das Alter nicht neu. Das wird von uns eines Tages, so wie seit Menschengedenken, einfach Besitz ergreifen. Die Sache verzögert sich nur um die geschenkte Dekade, die wir nun mit Inhalt füllen müssen. Deswegen die Eile beim Mittagessen.
Unter diesen Voraussetzungen beginnen wir über die vor uns liegenden Jahre nachzudenken und müssen erkennen, dass unser Leben auch ereignislos und gleichförmig werden kann. Wir befürchten, die Zeit spurlos zu verleben und ihr nicht gerecht zu werden. Der Pflicht des Lebens mit all ihren Vorgaben folgt die Kür, für die wir nun selbst die Verantwortung übernehmen müssen. Wer jetzt nicht handelt, wird es nie mehr tun.
Ich kann mich noch genau an jenen Zeitpunkt erinnern, als meine Mutter ihr Leben aus der Hand gab und es dem Pflegepersonal, der Heimleitung und den Ärzten überließ. Ihr Blick wurde stumpf und ausdruckslos. Sie blieb lange im Bett und ging schwerer. In den
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