Altern Wie Ein Gentleman
fürchte, ich bin ganz zufrieden daheim. Zudem verflüchtigt sich das Fernweh nach kurzer Zeit wieder.
Von einem anderen Mitglied meiner Alterskohorte wird erzählt, er habe sich vorgenommen, in allen fünfzig US -amerikanischen Bundesstaaten den jeweils höchsten Punkt zu besteigen. Das reicht von einer hundertzwanzig Meter flachen Erhebung im Walton County/Florida bis zu dem 6195 Meter hohen Mount McKinley in Alaska. Zu diesem Zweck habe er ein Wohnmobil gekauft und fahre damit gemächlich durch die Vereinigten Staaten. Ein Buch sei auch geplant. In etwa drei Jahren solle das Projekt abgeschlossen sein.
Neulich traf ich überraschend einen ehemaligen Kollegen, der einige Zeit vor mir in Rente gegangen war. Er hatte sich anschließend auf ein kleines Anwesen an der Südostküste Spaniens, das er sorgfältig über die Jahre mit seiner Frau ausgebaut hatte, zurückgezogen. Jeden Sommer waren die beiden mit einem Kleinbus quer durch Europa gefahren, um Möbel, Geschirr und Haushaltsgeräte in ihre zukünftige Heimat zu bringen. Wenn ich mich recht entsinne, schwärmte er vom Klima, dem südlichen Lebensgefühl und den spanischen Freunden, in deren Mitte er ein neues, das eigentliche Leben beginnen wollte.
Was er denn zu dieser Jahreszeit, es war später Herbst, auf den nasskalten, zugigen Straßen der Hauptstadt verloren habe?
»Ach, es war zwar schön da unten, aber alles hat seine Zeit. Wir sind wieder zurück.«
»Ist was schiefgelaufen?«
»Nicht richtig. Aber weißt du, unsere spanischen Bekannten waren doch nur Kellner, die nach Dienstschluss zu ihren Familien verschwanden. Da hatte keiner wirklich auf uns gewartet.«
»Deswegen seid ihr zurück?«
»Auch, aber es kam noch mehr dazu. Nachdem das Haus fertig eingerichtet war, gab es nicht mehr viel zu tun. Besuch war selten, ebenso Abwechslung. Mein Frau bekam Gesundheitsprobleme. Sie hatte ständig Angst, ihr könnte etwas zustoßen, ohne dass ein Arzt ihr zur Hilfe kommen würde. Schließlich haben wir unsere Abende mit deutschen Nachbarn verbracht, genau das, was wir ursprünglich auf keinen Fall wollten, und jetzt sind wir eben wieder zurück.«
»Neues Leben war nicht?«
»Nein, das ist misslungen«, gab er bedrückt zu und bat: »Könnten wir uns wieder sehen?«
Wir hatten uns schon als Kollegen wenig zu sagen gehabt, und so blieb es bei diesem kurzen Treffen mit dem Heimkehrer aus einem neuen Leben.
Das Fernweh mit seinen engen Verwandten, der Ungebundenheit, der Freiheit und der Abenteuerlust, gehört zu jenen Sehnsüchten, die im Vorleben fast immer unerfüllt geblieben waren. Jetzt im Alter scheint die Zeit reif und die Gelegenheit günstig. Man entsorgt seine Gegenwart von den Rückständen der Vergangenheit, verkauft und verschenkt all die überflüssigen Dinge, die sich im Lauf der Jahre angesammelt haben, und macht sich mit leichtem Gepäck auf die Reise. Die fällt heute leichter als ehedem, denn die Globalisierung sorgt zunehmend für eine weltweite Gleichförmigkeit, so dass man beginnt, sich überall daheim zu fühlen.
Wer dem Drängen nachgibt und neue Ufer sucht, tut trotzdem gut daran, sorgfältig Verlust und Gewinn abzugleichen, bevor er den Umzugswagen bestellt. Was gibt man auf? Die gesamte Infrastruktur, die man um sein Leben herum aufgebaut hat: Freunde, Bekannte, Verwandte, Ärzte, jene flüchtigen Grußbekanntschaften, die eine Straße erst mit Leben erfüllen, Geschäfte, soziale Einrichtungen, die Versorgungsbürokratie und die genaue Kenntnis der Umgebung, einschließlich Ausflugslokalen und verborgenen Badestellen an verwunschenen Seen. Das ist ein beträchtlicher Teil des Lebenskapitals und wirkt auf den ersten Blick nur deshalb so unscheinbar, weil es über die Zeit so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen geworden ist.
Was gewinnt man? Neuen Elan und wiedererwachte Neugierde, besseres Wetter, die Faszination des Anfangs und der Unbestimmtheit. Man befreit sich von alter Last und beginnt wieder im ursprünglichen Sinn zu lernen, nämlich, um zu überleben. Das Risiko gesellt sich einem zur Seite. Und weil es ein Neuanfang ist, hat man das Gefühl, tatsächlich erneut zu leben.
Wer Vorteile und Nachteile abgewogen hat und den Mut findet, neu zu beginnen, sollte jedoch eine Reihe wichtiger Details in Betracht ziehen.
Wie ist das Klima? Hitze ist, trotz der deutschen Sehnsucht nach Sonne und Wärme, kein guter Begleiter durch das Alter. Man sollte, bevor man die Umzugskisten packt, seine künftige Heimat in den
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