Altern Wie Ein Gentleman
Vasen verwelkten die Blumen, und in der Obstschale faulten die Äpfel. Die Kerzen verstaubten. Die Zeitschriften auf der Ablage unter dem Couchtisch wurden ungelesen älter. Sie hatte sich aus der Kür verabschiedet.
Diejenigen unter den »Vierzigern«, die einst rote Fahnen geschwenkt hatten, wird der Abschied aus dem Arbeitsleben an ihre weit zurückliegende Lektüre von Karl Marx erinnern. Der hatte den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus als den Schritt vom Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit beschrieben. Der reale Sozialismus ist über Jahrzehnte mit ernüchternden Ergebnissen geprüft worden. Das Alter indes kommt, für meine Generation zumindest, dem Reich der Freiheit schon recht nahe. Im Sozialismus, sagte Marx voraus, sei es jedem erlaubt, »heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, mittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren …ohne je Jäger, Fischer, Hirte oder Kritiker zu werden«. Das ist nicht wörtlich zu nehmen, sondern soll anzeigen, dass jeder tun und lassen kann, was ihm beliebt, und ihm überdies die Mittel für sein sorgloses Treiben zur Verfügung stehen. Nach Berufsende sind wir in der Mehrzahl befreit und wohlversorgt. Wir können fortan »morgens jagen und abends Viehzucht treiben«. Damit erfüllt sich für manchen »Vierziger« unverhofft eine längst verloren geglaubte Utopie.
Der Unternehmer Titus Dittmann, der bereits die Sechzig überschritten und einst das Skateboard und dessen Subkultur nach Deutschland gebracht hat, erklärte einmal ganz im Sinne meiner Generation: »Die Idee unbegrenzter Jugendlichkeit ist zum gesellschaftlichen Grundkodex geworden und löst den klassischen Reifeprozess ab.« Selbstbewusstsein und Lebensgefühl entkoppeln sich demnach von der biologischen Uhr. Wir definieren uns immer weniger über das Alter und immer mehr über die Gesinnung. Zugehörigkeit und Akzeptanz werden in erster Linie durch Glaubwürdigkeit und Lifestyle geschaffen. Das ist ein interessanter Vorschlag, um das Alter zu überlisten. Durch die Betonung der »weichen Faktoren« wie Kleidung, Habitus, Hobbys und Sprache sollen die »harten Faktoren« – nämlich Geburtsdatum und Verfall – außer Kraft gesetzt werden. Die Zukunft wird zeigen, ob das eine taugliche Strategie ist.
Freilich, das sind Änderungen im Detail. Aber reicht unsere Kraft für den ganz anderen Entwurf und für ein zweites Leben? Wird aus dem Bereichsleiter ein später Weinbauer, aus dem Rechtsanwalt ein Weltenbummler und aus der Edelfeder ein Eremit?
Wer ein zweites Leben sucht, setzt sich dem Verdacht aus, sein erstes sei ihm missraten. Er hätte dann Jahrzehnte vergeblich gelebt und nicht die Kraft gefunden, sich aus seiner Misere zu befreien. Erst sein Geburtsdatum im Zusammenhang mit den Vorschriften zur Lebensarbeitszeit hätte ihn erlöst. Dem neuen Leben gesellt sich zudem das Motiv der Flucht zur Seite. Man möchte Pflichten, Verbindlichkeiten, sich selbst und das Alter hinter sich lassen. Auf Dauer wird dem selten Erfolg beschieden sein, denn die Natur gesteht uns nur ein Leben zu. Keiner wäre gut beraten, unter solcher Last ins Alter einzuziehen.
Trotzdem war unter meinen Kollegen der Ausbruch in ein neues Leben häufig Thema. Es gab zukünftige Südseeträumer, Berghüttensiedler, Weltumsegler, Wohnwagennomaden, Strandläufer und New-York-Süchtige unter ihnen. Trotz aller Verschiedenheiten waren sie sich in einem einig: Sie wollten lange, warme Sommer und kurze, gemäßigte Winter.
Ich kenne jedoch nur einen Kollegen, der tatsächlich seine Habe verkauft, das Geld in eine Segeljacht gesteckt hat und seither unterwegs ist. Gelegentlich schaut er in Berlin vorbei. Dann treffen wir uns zu Rührei und Schinken. Er ist dünn geblieben und wortkarg geworden. Während der langen Gesprächspausen verliert sich sein Blick. Auf die naheliegende Frage, ob er glücklich geworden sei auf hoher See und in fremden Häfen, lächelt er schmal und vieldeutig, als bedürfe es darauf keiner Antwort.
Nach unseren Treffen regt sich regelmäßig ein undeutliches Bedürfnis nach Aufbruch in mir. Ich weiß allerdings nicht, wohin. Es sind vage Bilder von Ferne und Ungebundenheit. Manchmal sehe ich mich mit einem Rucksack unterwegs, dann wieder einsam an weiten Stränden oder als Autor in einem kleinen Apartment in New York City. Bislang habe ich jedoch stets, das Rückflugticket in der Tasche, ein bequemes Hotel einer Matratze im Massenlager vorgezogen. Ich
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