Altern Wie Ein Gentleman
über die Ergebnisse unterhalten.
»Wozu? Die sind ohnehin nicht zu ändern«, wehrte er achselzuckend ab.
»Wozu noch Politik, es will sowieso keiner mehr etwas von mir wissen«, gestand ein ehemaliger Studioleiter resigniert ein. »Wiederholt sich doch alles: Koalitionskrach, Ministersturz, Wahlen und Wenden. Wer braucht das noch?«
Was ist geschehen? Liegt es daran, dass sich endlich, nach langen Jahren, jene Politikverdrossenheit, von der so viel die Rede ist, auch bei uns einstellt? Hat alles seine Zeit, und die der Politik ist für uns vorbei? Sind wir gekränkt, weil wir keinen Einfluss mehr haben, den wir ohnehin nie hatten?
Vermutlich von allem ein wenig, zuzüglich der weisen Einsicht: Das Geschäft der Politik ist die Zukunft, und dort haben wir Alten nichts mehr verloren, denn sie wird das Eigentum unserer Kinder und Enkel sein.
Meine unbeschwerte Form der Lektüre im Coffeeshop gegenüber wird regelmäßig unterbrochen durch Passanten, die, ebenfalls im Alter, alle Zeit haben für einen Gedankenaustausch über die wesentlichen Dinge im Leben, wie die Einkaufsliste, Sportergebnisse, Wehwehchen, Sonderangebote und die guten alten Zeiten.
Am späten Vormittag gehe ich öfter zum Schwimmen in ein zu dieser Zeit nur spärlich besuchtes Hallenbad, und ebenso häufig sehe ich mir am Nachmittag Filme an. Das Kino hatte früher stets die Anmutung der Abendstunden, aber warum eigentlich? Nachmittags gibt es herrlich leere, oft verbilligte Vorstellungen. Ich kann die Beine hochlegen, schlafen, essen und trinken. Selten hat man unmittelbare Nachbarn und kann während der Vorstellung die Toilette aufsuchen, ohne andere Zuschauer zu verärgern. Im Alter wird das eine bedenkenswerte Überlegung.
Hinzu kommen Pilzesammeln, Kochen, mein Haushalt, gemeinsames Essen, gute Gespräche und loses Geplauder, Sport sowie sorgfältiges, unerschöpfliches Pläneschmieden für Reisen und Ausflüge. Museen, Ausstellungen, endlose Telefongespräche und lange Stunden zwischen den Regalen von Antiquariaten sind noch nicht eingerechnet. Und spät in der Nacht schaue ich mir all die herrlichen Filme an, die eine rätselhafte Programmplanung dorthin verbannt hat. Seltener gehe ich ins Theater oder in Konzerte. Recht besehen sind die Angebote so reichhaltig und vielfältig, dass man außer Atem kommen möchte und oft nicht weiß, wo beginnen.
Anderes habe ich beiseitegelegt. Ich verzichte auf Skifahren, denn ich fürchte seit Neuestem um die Knochen. Meine Hüften sind zu steif geworden, um beim Segeln elegant unter dem Baum durchzutauchen. Also lasse ich es. Ich habe den Ehrgeiz verdrängt, das Brandenburger Tor als Marathonläufer zu durchqueren. Ich meide Bücher, die schwer in der Hand liegen, und Orte, die voller Menschen sind. Ich denke, dass ich in Zukunft auch ganz gut ohne Bergwanderungen und Radtouren über deutsche Mittelgebirge auskommen werde, und ich leiste mir Lektüre, die querfeldein an allem unverbindlich nascht.
Eine entspannte und gelassene Stimmung hat sich über mein Leben gelegt. Die Freude auf etwas wird wichtiger als die Sache selbst. Die ist meist schnell durchlebt, die Freude hingegen kann andauern. Ständig erschließen sich mir neue, unerwartete Quellen von Zufriedenheit und Wohlbehagen. Kurz, ich lebe nach einer alten sozialdemokratischen Einsicht: Das Ziel ist nichts, der Weg ist alles.
Das Alter bietet nebenbei gute Gelegenheit, sich an die süßen Früchte der Jugendeseleien zu erinnern. Einige musste man widerwillig beiseitelegen, um Ansehen und Karriere nicht zu gefährden. Jetzt darf man gefahrlos nach hinten blicken und wird vermutlich ein paar seltsame Funde zutage fördern.
Unter den zahlreichen Ideen zur Verbesserung der allgemeinen und vor allem der persönlichen Wohlfahrt, die meine Generation einst verfolgte, war die Forderung: »Genius für alle« sicherlich die beeindruckendste. Demnach verbargen sich im Innersten eines jeden reichhaltige schöpferische Talente, die durch Erziehung, Umwelt und die Vorgaben der offiziellen Kultur an ihrer Entfaltung gehindert wurden und darauf warteten, endlich befreit zu werden. In der Folge wurde nichts unversucht gelassen, um diese verschütteten Fähigkeiten ans Tageslicht schöpferischer, meist künstlerischer Tätigkeit zu befördern. Als schließlich ein Künstler sich selbst zum Kunstwerk erklärte, gab es kein Halten mehr. Ein Kunstbegriff, der bis an die Grenzen des Universums reichte, erklärte selbst den Inhalt einer Mülltonne zur Kunst,
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